Sterne über Tauranga - Laureen, A: Sterne über Tauranga
Vaters gewesen, ihnen etwas zu trinken zu holen, aber da auch kein Kellner in Sicht war, begaben sie sich zu dem Stand, an dem Punsch und Glühwein ausgeschenkt wurden.
Währenddessen ließ Ricarda den Blick über die Gäste schweifen, unter denen sie tatsächlich den Professor erkannte. Er löste sich gerade aus einem Pulk von Leuten und wandte sich dem Eingang zu. Wollte er schon gehen? Wurde er zu einem Notfall gerufen? Unruhe erfasste Ricarda. Wenn er jetzt verschwand, würde sie nicht die Gelegenheit haben, ihn zu beeindrucken.
Am Punschstand reichte man ihnen zwei Gläser einer nach Zimt duftenden braunen Flüssigkeit, in der ein Stück Zitrone schwamm. Während sie damit durch den Saal schlenderten, kamen ihnen auch schon die nächsten Bekannten entgegen.
Marlene Heinrichsdorf schwebte am Arm ihres Gatten, Dr. Eusebius Heinrichsdorf, herbei. »Marlene, Liebes!«, begrüßte sie ihre Freundin, und nur das Punschglas in ihrer Hand hielt sie davon ab, sie zu umarmen.
»Susanne!«
Es wurden Küsschen auf die Wange ausgetauscht, und Ricarda wünschte insgeheim, der Punsch würde sich über die Kleider der Frauen ergießen. Doch leider geschah das nicht.
»Doktor Heinrichsdorf, Sie kennen doch sicher noch meine Tochter«, sagte Susanne Bensdorf, während der Arzt sie mit Handkuss begrüßte.
»Aber sicher doch. Fräulein Ricarda.«
Ricarda zuckte zusammen. Warum nannte er sie »Fräulein«? Er musste doch von seiner Frau gehört haben, dass sie inzwischen promovierte Ärztin war.
»Vielleicht solltest du sie besser Fräulein Doktor nennen«, verbesserte Marlene Heinrichsdorf ihren Mann überraschenderweise. Aber ganz sicher nicht, weil sie mit Ricarda sympathisierte. »Immerhin hat sie vor kurzem ihr Examen gemacht.«
Ihr Gatte zog die Augenbrauen hoch. »Wirklich?«
Ricarda verspürte große Lust, ihm die gleiche Rede zu halten wie Berfelde. Aber abgesehen davon, dass sein Interesse nur vorgetäuscht war, hatte er auch nicht die Absicht, ihr Herz mit schmierigen Komplimenten zu gewinnen, wie es offenbar bei dem anderen der Fall gewesen war.
»Ja, ich habe meine Doktorprüfung vor ein paar Wochen abgelegt.« Ricarda hielt es nicht für nötig, ihm das Thema ihrer Promotion zu nennen. Ihr stand nicht der Sinn nach Konversation, auch wenn ihre Mutter ihr nachher bestimmt vorwerfen würde, dass sie doch ein wenig gesprächiger hätte sein können.
Ein unangenehmes Schweigen hüllte sie nun ein, doch die Heinrichsdorfs brachten die Unterhaltung routiniert wieder in Gang.
»Wo ist denn Heinrich?«, fragte Dr. Heinrichsdorf.
Ricarda wurde das Gefühl nicht los, dass er sich in ihrer Gegenwart unbehaglich fühlte. War ihr vielleicht beim Betreten der Charite mitten auf der Stirn ein Horn gewachsen?
»Heinrich hat sich kurz mit Doktor Berfelde zum Gespräch zurückgezogen.«
Bei der Erwähnung dieses Namens blitzten Marlenes Augen wissend auf. Ricarda entging das nicht. Aber eigentlich war es ja auch kein Wunder; da die Arztgattin wöchentlich im Salon ihrer Mutter weilte, wusste sie gewiss mehr über die neuen Freunde ihrer Eltern. Und vielleicht wusste sie noch etwas ganz anderes.
»Entschuldigen Sie mich bitte, ich glaube, der Punsch steigt mir gerade zu Kopf. Ich muss ein wenig frische Luft schnappen«, erklärte Ricarda unvermittelt, und sie spielte ihren Anfall von Unwohlsein so überzeugend, dass ihre Mutter ihr mit einem Nicken erlaubte, die Runde zu verlassen.
In Wirklichkeit wollte Ricarda sich auf die Suche nach Professor Gerhardt machen. Es war jetzt schon eine halbe Stunde her, seit er den Speisesaal verlassen hatte. Vielleicht war er in seinem Büro.
Ricarda stürmte förmlich aus dem Speisesaal. Sie folgte einem hell erleuchteten Gang, bog mal links und mal rechts ab und erreichte schließlich die Treppe, die sie vor Wochen schon einmal erklommen hatte. Ab hier kannte sie den Weg zum Büro des Direktors.
Vielleicht ist der Professor gar nicht dort und du machst dich gerade lächerlich, fuhr ihr durch den Kopf. Entschlossen schob sie den Gedanken beiseite.
Ihre Schritte hallten dumpf durch leere Korridore, deren Fenster den Blick auf das Bettenhaus freigaben. Wie viele Schwestern mochten dort am Lager eines Schwerkranken Nachtwache halten? Auch sie hatte in ihrer Klinikzeit so manchen Menschen bis an die Schwelle des Todes begleiten müssen, hinter der es kein Zurück mehr gab, und sich oft gefragt, ob die Medizin nicht mehr tun könne. Das Wissen war so begrenzt! Es würde ihr niemals
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