Sterne über Tauranga - Laureen, A: Sterne über Tauranga
erwartet. Es würde einen Weihnachtsbaum und Lebkuchen geben, sodass die Luft einmal nicht von Karbolgeruch erfüllt wäre. Die Patienten blieben von diesen Feierlichkeiten ebenso ausgeschlossen wie das niedere Pflegepersonal. Außer den Ärzten waren nur Honoratioren und vielleicht einige Adlige geladen.
Die richtige Veranstaltung, um einen Mann kennenzulernen, fiel Ricarda ein. Einen Mann, der meinen Eltern genehm ist ... Plötzlich fröstelte sie, und ihre Vorfreude verflog. Wahrscheinlich werden meine Eltern mich heute Nacht verkuppeln, dachte sie beklommen und wäre am liebsten aus dem Landauer gesprungen.
Die Umrisse der Charite verschwanden in der Dunkelheit. Nur die hell erleuchteten Fenster deuteten darauf hin, dass es hier Mauern voller Leben gab. Als die Kutsche durch das Tor fuhr, konnte man bereits Stimmen aus dem Speisesaal vernehmen.
Ricarda dachte daran, wie sie diesen Weg zuletzt entlanggegangen war - mit dem Umschlag in der Hand. Fast einen vollen Monat wartete sie inzwischen bereits auf eine Entscheidung. Wann würde das endlich ein Ende haben?
Das Rondell vor dem Hauptgebäude wirkte wie der Vorplatz eines noblen Hotels. Kutschen und Droschken fuhren vor und brachten immer neue Gäste. Auch Johann brachte den Landauer dort zum Stehen, sodass die Bensdorfs nur wenige Schritte bis zum Eingang zurücklegen mussten.
Eine angenehme Wärme umfing sie, als sie den festlich geschmückten Speisesaal betraten.
Ricarda ließ sich von der prächtig dekorierten Tanne und dem Duft nach Zimt, Glühwein und Gebratenem verzaubern, bis ihr Vater ihr die ersten Kollegen vorstellte und ihr schlagartig bewusst wurde, dass sie sich nicht geirrt hatte mit ihrer Vermutung: Sie sollte hier tatsächlich ihrem zukünftigen Gatten begegnen. So gewissenhaft, wie ihr Vater war, hatte er sicher schon einige Kandidaten ins Auge gefasst. Auf jeden Fall hatte Dr. Rodenstein, dem die ersten Worte der Eltern galten, keinesfalls zufällig seinen Sohn Max im Schlepptau, der vor kurzem approbiert worden war und eine hoffnungsvolle Karriere an der Charite vor sich hatte.
Ricarda konnte ihren Zorn nur mühsam zügeln. Dieser gelackte Popanz hatte sicher keinen besseren Abschluss als sie. Aber sie zwang sich zur Ruhe und lächelte verbindlich. Ihre Stunde würde noch kommen. Bestimmt war Professor Gerhardt ebenfalls anwesend, und wenn es ihr gelang, mit ihm zu sprechen, würde er sich gewiss an ihre Bewerbung erinnern. Und wer weiß, vielleicht würde ihn die weinselige Laune des Ballabends zu einer Zusage verleiten.
Doch erst einmal ging es weiter mit den Vorstellungen und Höflichkeiten. Ricarda bemerkte, dass ihr Lächeln immer steifer und ihr Widerwille immer größer wurden. Schließlich steuerte ein einzelner Mann auf sie zu.
Immerhin einer, der nicht mehr im Fahrwasser seiner Eltern schwimmt, ging es Ricarda durch den Kopf. Er war hochgewachsen und hatte ein angenehmes Gesicht. In seinem Schnauzbart sowie an den dunkelblonden Schläfen zeigte sich ein erster Silberschimmer, obwohl er erst Ende dreißig sein mochte.
»Ricarda, ich möchte dir Doktor Berfelde vorstellen«, sagte ihr Vater freudestrahlend, nachdem die beiden einander begrüßt hatten. Auch die Augen ihrer Mutter leuchteten auf, als sie den jungen Mann sah. »Johann ist in den vergangenen Jahren ein guter Freund geworden und brennt schon lange darauf, dich kennenzulernen, mein Kind.«
Ricarda reichte ihm die Hand und war sofort peinlich berührt. Berfelde musterte sie mit einer Eindringlichkeit, die an Unhöflichkeit grenzte. Sein Blick glitt über ihr Gesicht, den Hals und die Schultern und machte auch vor ihrem Busen nicht Halt, sodass Ricarda errötete. Sie zwang sich dennoch zu einem Lächeln, als er ihr galant einen Kuss auf den Handrücken hauchte.
»Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Fräulein Ricarda«, sagte er und lächelte sie an.
Die Höflichkeit hätte geboten, diese Worte zu erwidern, doch Ricarda brachte nichts über die Lippen. Sie erwartete fast schon, dass ihre Mutter sie mit einem Knuff zu einer Antwort ermuntern würde, aber nichts dergleichen geschah.
»Mein lieber Doktor Berfelde«, sagte Susanne Bensdorf nur, stieß ein gekünsteltes Lachen aus und ließ sich von ihm nun ebenfalls die Hand küssen. »Es ist schon eine Weile her, dass Sie uns besucht haben. Vielleicht sollten Sie das bald wieder in Erwägung ziehen.«
Ricarda konnte sich nicht daran erinnern, wann sie dieser Mann schon einmal besucht
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