Sterne über Tauranga - Laureen, A: Sterne über Tauranga
leichtfallen, einen Patienten dem Tod zu überlassen, aber sie hatte inzwischen eingesehen, dass Leben und Sterben untrennbar miteinander verbunden waren. Deshalb sollte das Schicksal, das allen drohte, einen nur dazu anregen, möglichst nur das zu tun, was Herz und Gewissen einem diktierten.
Eine Stimme, die Ricarda bekannt vorkam, unterbrach den Fluss ihrer Gedanken. Kein Zweifel, einer der Männer, die sich dort unterhielten, war ihr Vater. Redete er mit Professor Gerhardt?
Ricarda blieb augenblicklich stehen.
»Meine Tochter ist zuweilen ein wenig ungestüm. Das müssen Sie ihrer Jugend anrechnen. Ich denke aber, dass sie eine passable Ehefrau abgeben wird.«
Eine passable Ehefrau! Ricarda erstarrte. Da niemand auf dem Gang zu sehen war, presste sie sich an die Wand und lauschte.
»Ich bin mir sicher, dass ich sie nach meinen Vorstellungen formen kann«, entgegnete der Gesprächspartner ihres Vaters.
Das dunkle Timbre ließ keinen Zweifel zu: Johann Berfelde!
»Auch die ungestümsten Pferde können gebrochen werden und sind dann die besten Reittiere.«
Ricarda stieg die Röte in die Wangen. Das war ja ungeheuerlich! Er verglich sie mit einem Pferd! Unwillkürlich ballte sie die Fäuste. Und ihr Vater widersprach nicht einmal! Am liebsten wäre sie jetzt in das Büro gestürmt, aus dem diese Unterhaltung drang, und hätte den beiden so gar nicht damenhaft klargemacht, was sie von ihren Worten hielt, doch sie war vor Entsetzen wie gelähmt.
»Sie sollten wissen, dass sie vorhat, wirklich als Ärztin zu arbeiten.«
»Das werde ich ihr natürlich untersagen, sobald wir verheiratet sind. Außerdem, glauben Sie, dass diese Bewerbung aussichtsreich ist?«
»Schwer zu sagen. Es wäre möglich, dass Gerhardt in Erwägung zieht, eine Frau in seiner neuen Kinderklinik anzustellen. Viel Schaden anrichten könnte sie dort nicht.«
»Aber das würde dennoch einen Skandal heraufbeschwören.«
»Ja, aber damit würde er sich bei den Suffragetten beliebt machen. Sie müssen bedenken, bei diesen Frauen handelt es sich nicht nur um Abenteurerinnen oder Landstreicherinnen. Es sind auch Gattinnen von Regierungsräten darunter.«
Berfelde lachte auf. »Er wird es sich aber nicht mit den Männern verscherzen wollen. Wenn es nötig ist, werde ich ihm ins Gewissen reden. Ich versichere Ihnen, wenn Ricarda erst einmal meine Frau ist und ihr erstes Kind erwartet, wird sie ihre Flausen schon vergessen.« Das Klirren zweier Gläser verriet, dass die beiden darauf anstießen.
Ricarda schloss die Augen. Ihr Vater konnte doch nicht ernsthaft billigen, dass dieser Berfelde so redete?
Auf einmal wusste sie nicht mehr, auf wen sie mehr böse sein sollte - auf einen Fremden, der sie als Zuchtstute betrachtete, oder auf ihren Vater, der einmal ihr größter Förderer gewesen war und der nun eine Kehrtwende gemacht hatte, die ihm selbst eigentlich Schwindel verursachen sollte. Das Gefühl, verraten worden zu sein, weckte in ihr den Wunsch, sich augenblicklich in Luft aufzulösen. Oder fortzulaufen, so weit weg wie nur möglich.
Daran änderte auch nichts, dass ihre Bewerbung offenbar nicht auf taube Ohren gestoßen war. Ricarda wollte sich allerdings nicht einbilden, dass der Professor sie allen Widerständen zum Trotz einstellen würde. Ihr Vater und auch dieser Berfelde würden sicher alles daransetzen, dass sie scheiterte.
Wie konnte er ihr das nur antun! Tränen schossen ihr in die Augen, und sie wischte sie mit einer wütenden Handbewegung fort.
So leise wie möglich schlich Ricarda zurück zur Treppe. Sie huschte am Ballsaal vorbei, in dem gerade ein Weihnachtslied angestimmt wurde, und folgte dem Gang bis zur Garderobe.
Dort standen einige Männer zusammen, die redeten und rauchten. Glücklicherweise war kein bekanntes Gesicht darunter. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, waren irgendwelche Fragen oder Schmeicheleien.
Aber von dieser Runde schien sie das nicht befürchten zu müssen. Die Männer hatten sich um einen von ihnen geschart, der ganz eindeutig die Rolle eines Erzählers einnahm.
»Die Reise war wirklich eine Strapaze, aber es hat sich gelohnt«, erklärte der nun, und Ricarda horchte auf. Sie bewegte sich weiterhin auf die Mäntel zu und registrierte, dass die Garderobenfrau gerade nicht da war.
»Neuseeland ist ein ganz eigentümliches Land«, fuhr der Mann fort, ohne Notiz von der wartenden Zuhörerin zu nehmen. »Die Landschaft besitzt eine raue Schönheit, und ich habe noch nie so viele gegensätzliche
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