Sterne über Tauranga - Laureen, A: Sterne über Tauranga
Klimazonen in einem Land erlebt. Während man im Norden Vulkane, Dschungel und sonnengelbe Sandstrände vorfindet, gibt es im Süden grüne Ebenen, Fjorde und Schnee. Außerdem kann man dort Menschen antreffen, die von Kopf bis Fuß tätowiert sind und ihre Gäste mit furchtbaren Drohgebärden begrüßen, um deren Friedfertigkeit auf die Probe zu stellen. Ich sage euch, wenn ich gekonnt hätte, wäre ich dort geblieben und hätte dort eine Weile als Arzt gearbeitet. Ich bin sicher, dass es in diesem Paradies allerhand zu entdecken und zu erforschen gibt. Jedenfalls werde ich jede Gelegenheit nutzen, wieder einmal dorthin zu reisen.«
Die Worte hallten in Ricarda wie ein Echo nach. Neuseeland, davon hatte sie doch schon auf dem Plakat der Suffragetten gelesen. Ein Land, das den Frauen seit kurzem gestattete zu wählen. Ein Land von unverwechselbarer Schönheit. Ein Land, das offenbar auch Mediziner brauchte.
Fasziniert betrachtete sie den Arzt und wünschte, an seiner Stelle zu sein. Frei von allen Zwängen, frei zu reisen ...
Niemand würde versuchen, ihm Zügel anzulegen oder ihm »Flausen« auszutreiben. Nur weil er als Mann geboren war, eine zufällige Wahl der Natur, konnte er sich alles erlauben.
Ein schrilles Lachen aus dem Ballsaal holte Ricarda wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Wenn sie noch länger blieb, würde ihre Mutter sie womöglich suchen und finden. Oder ihr Vater und Dr. Berfelde würden aufkreuzen und sie wieder mit in den Ballsaal nehmen. Die Garderobenfrau war längst wieder an ihrem Platz. Und so nutzte Ricarda die Freiheit, die sie sich herausgenommen hatte, holte ihren Mantel und verließ das Gebäude.
7
Trotz ihrer Erschöpfung hatte Ricarda kaum geschlafen. Der Gedanke an Neuseeland und an die Möglichkeit, dort ihren Beruf auszuüben, hatte sie wach gehalten und wirbelte auch jetzt wie Herbstlaub, das vom Wind getrieben wurde, durch ihren Kopf. Plötzlich klopfte es an der Tür.
»Herein!«, rief Ricarda, die damit rechnete, dass es ihr Vater oder ihre Mutter war, die ihr angesichts ihres gesellschaftlichen Vergehens die Leviten lesen wollten.
Doch es war Rosa, die das Zimmer betrat, in den Händen ein Silbertablett. Aber sie brachte keineswegs das Frühstück, sondern einen Brief.
Ricarda spürte, wie ihr Herz stolperte. Der Umschlag glich dem, den sie vor Wochen in der Charite abgegeben hatte. Augenblicklich sprang sie aus dem Bett, verzichtete auf den Morgenmantel und riss den Brief förmlich vom Tablett herunter. Vor lauter Aufregung vergaß sie sogar das Dankeschön, was ihr jedoch erst auffiel, als die Tür hinter Rosa ins Schloss fiel.
Ricarda lief zum Schreibtisch und griff nach dem Brieföffner. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie den Umschlag eher zerfetzte, als einen geraden Schnitt zu machen. Schon fielen ihr die eigenen Bewerbungsunterlagen entgegen, begleitet von einem Anschreiben.
Sehr geehrtes Fräulein Dr. Bensdorf,
wir haben Ihre Bewerbung für eine Stellung als Ärztin an unserem Hospital zur Kenntnis genommen. Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir Sie trotz Ihrer hervorragenden Reputationen nicht berücksichtigen können. Das von Ihnen in Zürich/Schweiz absolvierte Studium wird in Preußen nicht anerkannt.
So leid es mir tut, bleibt mir nur, Ihnen alles Gute auf Ihrem weiteren Weg zu wünschen.
Hochachtungsvoll,
Prof. Dr. Carl Jakob Gerhardt,
Direktor der Charite Berlin
Ricarda starrte eine Weile auf die Schrift, bis der Anblick in ihren Augen zu brennen begann. Dann ließ sie sich auf ihr Bett sinken. Der Hoffnungsschimmer erlosch jäh wie eine Kerze, die von einem Windstoß ausgepustet wurde. Stattdessen wirbelten wahnwitzige Vermutungen durch ihren Kopf.
Hatte ihr Vater diesen Brief veranlasst? Hatte er den Professor zu dieser Ablehnung gedrängt, um ihr die »Flausen« auszutreiben? Hatte dieser schreckliche Dr. Berfelde ihn vielleicht sogar unterstützt? Hatten beide gestern Nacht noch auf Professor Gerhardt eingeredet, um ihr diesen Denkzettel zu verpassen?
Ricarda seufzte. Auszuschließen war es nicht. Nachdem sie eine Weile auf das Blatt gestarrt hatte, erhob sie sich, kleidete sich an und ging hinunter. Sie wusste, dass es keinen Sinn haben würde, ihren Vater zu beschuldigen und ihren Eltern den Brief zu zeigen, aber ihr Trotz befahl ihr, es dennoch zu tun. Die Freude auf ihren Gesichtern würde ihren Zorn und ihren Eifer noch mehr anstacheln.
Sie fand ihre Eltern im Esszimmer, wo sie gerade das
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