Sternen Stroemers Lied - Unter dem Weltenbaum 02
und einen neuen nach Art der Vogelmenschen angenommen. Er sollte ihr helfen, ihr altes Leben zu vergessen und ganz von vorn anzufangen. Seit dreißig Jahren hatte sie von sich nicht mehr als Rivkah gedacht. Rivkah war eine unerfahrene junge Frau gewesen, die zwischen die Machtspiele der Oberen des Königreichs Achar geraten war und Betrug und Mord hatte erdulden müssen.
Ihr Blick fiel auf ihren Gemahl, der sie aufmerksam beobachtete. Aber seine Miene ließ sich nicht deuten. Goldfeder sah ihn fragend an, und er zuckte nur unmerklich die Achseln. Das bedeutete wohl, daß es allein ihre Entscheidung war. Gleichgültig ob sie fortan bei Goldfeder bleiben oder sich wieder Rivkah nennen wollte, er würde sie auch weiterhin lieben.
Sie wandte sich wieder an den Fährmann: »Ich werde Euch Euren Wunsch erfüllen.« Aber Rivkah hatte nicht beinahe fünfzig Jahre unter den Acharitern und den Ikariern zugebracht, um nicht wenigstens eins gelernt zu haben: Wer etwas wollte, mußte auch etwas geben. Wenn der Charonite schon selbst sagte, daß er damit einen hohen Preis von ihr verlange, dann durfte sie etwas ähnlich Großes auch von ihm fordern. »Da ich Euch aus freiem Willen diese Gunst erwiesen habe, darf ich auch eine von Euch erbitten. Versprecht mir, meinem Sohn Eure Hilfe zu gewähren, wenn er Euch darum bittet. Gleich unter welchen Umständen. Tut dies für Rivkah.«
Der Fährmann blähte die Nasenflügel und lachte schallend. »Ihr habt gut gelernt, Rivkah. Blut für Blut. Eure Bitte sei erfüllt. Doch nun genug der Worte. So vieles gilt es zu überlegen, bevor wir am Krallenturm eintreffen.«
Der Charonite fiel in Schweigen und beantwortete fortan keine Fragen mehr.
22 D IE R ATSVERSAMMLUNG DER I KARIER
Um seine schmerzenden Muskeln zu schonen, stieg Sternenströmer langsam ins dampfende Wasser, hielt den Atem an, bis sein Körper sich an die Temperatur gewöhnt hatte, und konnte sich dann so weit entspannen, um sich vom Rand des Beckens zu lösen. Er hatte die Flügel ausgebreitet und ins Naß geschoben, damit er bequem an der Wasseroberfläche treiben konnte. Während der vergangenen Woche hatten sich die meisten seiner Wunden geschlossen und heilten gut. Nur die tiefsten an der Brust hielten ihn nachts noch wach. Bis zum Überfall der Skrälinge hatte der Zauberer sich stets bester Gesundheit und ungebrochener Vitalität erfreut und nie ans Altern gedacht. Aber seit jener Nacht, in der er dem Tode so nahe gekommen war, spürte er, daß es damit wohl vorbei war.
Der Tod kam den Ikariern nur selten in den Sinn. Sie lebten sehr lange, und ihre gute körperliche Verfassung blieb ihnen für gewöhnlich bis zum Ende erhalten. Dann schwanden sie meist innerhalb weniger Wochen dahin, so als habe die helle Sonne in ihrem Innern mit einem Mal ihre gesamte Leuchtkraft verloren, als sei ihre Wärmequelle versiegt. Die Toten wurden leidenschaftlich, aber kurz betrauert. Dann kehrten die Vogelmenschen wieder dazu zurück, ihr Leben zu genießen. Bis zum Angriff von Gorgraels Geistern hatten Ikarier nur selten ein gewaltsames Ende genommen. Und von denen, die die Axtkriege noch mitgemacht hatten, lebte niemand mehr, um die jüngeren Generationen daran zu erinnern, was es hieß, einen Freund oder einen Verwandten durch die tödliche Waffe eines Gegners zu verlieren.
Doch nach der Rückkehr aus dem Erdbaumhain blieb es kaum einer ikarischen Familie erspart, sich auf Seelensuche zu begeben. Zu viele Tote mußten beklagt werden. Kinder, Lebensgefährten und Eltern waren gestorben. Andere hatten furchtbare Verwundungen erlitten und würden bis an ihr Ende von Narben gekennzeichnet sein. Fast jeder, der vom Jultidenritus zurückgekehrt war, hatte mit ansehen müssen, wie neben ihm ein Vogelmensch in Stücke gerissen worden war. Und wie waren sie denn dem mörderischen Überfall begegnet? Im Grunde überhaupt nicht. In blinder Panik waren sie davongelaufen oder in die Lüfte aufgestiegen. Die ruhmreiche Luftarmada hatte sich als stumpfes Schwert erwiesen, und so suchten die Ikarier nun nach Erklärungen. Geschwaderführer beschimpften Staffelführer, und diese wiederum die ihnen untergebenen Luftkrieger. Rabenhorst wütete gegen jeden, der ihm über den Weg lief. Sitzungen wurden überall und zu jeder Stunde einberufen, um herauszufinden, was in Zukunft besser gemacht werden könnte. Oft genug ging der Rat jedoch schließlich auseinander, ohne daß er zu irgendwelchen Ergebnissen gekommen war.
Auch die Zauberer kamen
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