Sternendieb - Roman
vorkommen, dass ich erst nach einer Weile bemerkte, dass sie gar nicht von sich, sondern von ihrer Mutter erzählte. Manchmal sogar von ihrer Großmutter.
> WAS ZUM BEISPIEL?
> Oje. Soviel ich mitbekommen habe, dass sie überall auf der Erde herumgezogen sind. Dass sie zu Fuß über gewaltige Gebirgszüge gepilgert sind und weite, leblose Wüsten durchquert haben. An was Genaues kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich saß auf einer Kiste und hab ihr zugehört und über die Freiheit nachgedacht. Lauter so dusseliges Zeug, das einem als Kind durch den Kopf geht, du weißt schon.
> NICHT RICHTIG. NEIN.
> Natürlich. Wir wissen das. Ich fand Rella faszinierend. Manchmal hab ich ihr Essen und andere Dinge gebracht. Hab ein bisschen Geld geklaut, damit sie sich was zu trinken kaufen konnte. Was ich tat, hielt ich für wichtig: Ich half Rella über die Runden! Eines Tages sollte ich etwas in der Klinik erledigen, und ich log über den Zeitpunkt des Jobs, sodass ich eine Anzuginspektion überschlagen konnte und eine Stunde Zeit herausschlug. Ich wollte mich in dieser Zeit unsichtbar machen und Rella aufsuchen. Aber sie war nicht da.
> Ich wanderte wieder nach oben in die Bahnhofshalle zurück. Ich ging zu den Bildschirmen hinüber, um nachzusehen, ob irgendwo ein Film für mich lief. Da hörte ich diese beiden Männer reden, und der eine sprach davon, dass es im Meer der Heiterkeit Schwierigkeiten gab, irgendein Problem mit einem Schiff, das nicht von den Eladeldi registriert war und partout landen wollte.
> »Ein Sammelsurium«, sagte er. »Ein Haufen Kleinkram von Gott weiß wo. Zusammengehalten mit lauter Tauzeug und Optimismus. Man traut seinen Augen nicht.«
> Ich habe nur aus Langeweile zugehört, mit den Gedanken war ich woanders. Ich fand einen Film, den ich mir ansehen wollte, er lief in einer etwas exzentrischen Kneipe. Als die Bahn kam, stieg ich ein.
> Dann, gerade als sich die Türen schlossen, sprang ich mit einem Satz wieder nach draußen. Alle schienen mich anzustarren, aber ich kümmerte mich nicht darum. Ich rannte zur Treppe und ins Tiefgeschoss hinunter, zu dem leeren Lagerraum. Ich ging schnurstracks zu Rellas Platte. Sie war leer. Ich habe Rella nie wiedergesehen. Ich sah auch die andere Frau nicht mehr. Und als ich in der Klinik ankam, waren sie alle ganz aus dem Häuschen, weil die Hälfte des Personals verschwunden war, einfach gegangen, ohne ein Wort.
12
Tabea Jute und Marco Metz nahmen den Lift zum Erdgeschoss. Sie traten in den blutunterlaufenen Tag von Schiaparelli hinaus.
Keine Menschen- und auch sonst keine Seele. Ein gedrungener Scarabaeus schob sich kehrend und spülend den Rinnstein entlang. Tabeas Stiefel knirschten auf dem sandigen Pflaster. Die kalte Luft machte einen klaren Kopf. Sie hatte sich am Abend zuvor gehen lassen, na und? Es tat ihr nicht leid. War doch der Sinn des Karnevals, oder? Nimm’s locker, sagte sie sich. Und hör auf, dir Sorgen zu machen.
Sie schlug den kürzesten Weg zum Weinbaum-Kanal ein. Schmutzige Frachter schipperten träge durch das trübe Wasser. An Ufertischen saßen schnurrbärtige Kaibesitzer und schlürften aus dampfenden Tassen umständlich ihre Suppe. Altairische Straßenfeger kehrten müde den Abfall zusammen. Jedermann schien einen Kater zu haben. Der Himmel zog inzwischen Streifen, die Luft war rau, zu viel Schwefel darin.
Sie erwischten eine Schnellbahn zum Hafen, auf der Grabenstraße aus Schiaparelli hinaus, vorbei an den Teufelskrallen, jenen hoch aufragenden zinnober- bis kirschroten Felsnadeln, die unter bestimmten Lichtverhältnissen zu glitzern scheinen, als wären sie aus rotglühender Glasschmelze. Bei Volldeimos sehen sie bestenfalls aus wie gigantische rosarote Schleimpilze. An diesem Morgen hätte man sie, so wie sie aus dem gelben Dunstschleier stachen, für erodierte Turmspitzen einer versunkenen Stadt aus Kathedralen halten können, begraben unter dem allgegenwärtigen Sand. So wenigstens drückte sich Marco aus und schwärmte von einer
Idee, mit der er schon lange schwanger ging, einer Performance bei den Teufelskrallen, einer Art Götterdämmerung, einem son-etlumière.
»Erzähl mir mehr über deine Band«, sagte sie.
»Oh, du wirst sie ja kennen lernen.«
»Was sind das für Leute?«, drängte sie ihn.
Er rutschte auf seinem Sitz herum, rieb den Knöchel des Zeigefingers an der Scheibe. »Du kommst schon zurecht mit ihnen«, versprach er.
Mehr wollte er nicht sagen.
Tabea mochte es nicht, wenn man ihr
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