Sternenfaust - 074 - Kern der Macht (2 of 2)
seinen Gott gestorben, und sollte es auch in dieser seltsamen Hohlwelt geschehen müssen.
Er reichte Bruder William einen Handspeicher, den er bis jetzt in den Krallen gehalten hatte. Viele seiner unsortierten Gedanken drehten sich um die heiligen Texte, die auf dem Gerät gespeichert waren. Captain Mirrin-Tal hatte ihm diese mit den beschwörenden Worten überlassen, sich die uralten Schriften intensiv zu Gemüte zu führen – sie würden ihn schon noch auf den richtigen Weg führen. Der richtige Weg, das war der von Satren-Nor propagierte Weg des Friedens und nicht der des heiligen Krieges, den die Kridan schon seit Anbeginn ihrer Existenz zu führen pflegten und dessen Berechtigung auch einer der Grundpfeiler für Sun-Tarins eigenen Glauben bildete.
»Wie Sie wissen«, begann Sun-Tarin schließlich zögernd, »spreche ich zu Ihnen nicht oft über Glaubensangelegenheiten. Unsere Ansichten sind einfach zu unterschiedlich. Ich empfinde Ihre nach wie vor als Ketzerei, auch wenn ich sie, da Sie immerhin an den einen wahren Gott glauben, respektiere. Doch jetzt muss ich Ihnen diesbezüglich eine Frage stellen.«
»Nur zu«, ermutigte William ihn.
»Würden Sie sagen, dass Ihr Glaube unerschütterlich ist?«
Der Christophorer blickte ihn verwundert an. »Nun«, sagte William gedehnt, »das kommt darauf an, wie Sie ›unerschütterlich‹ definieren. Ich bin zutiefst von der Existenz Gottes, seiner Allmacht und seinem Wirken im Universum überzeugt. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Überzeugung jemals durch irgendetwas so erschüttert werden könnte, dass ich diese Überzeugung aufgäbe. Falls Sie das mit ›unerschütterlich‹ meinen, so sage ich ganz klar: Ja, ich bin überzeugt, dass mein Glaube unerschütterlich ist.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich schließe aber nicht aus, dass eines Tages Umstände eintreten, die mich nachdrücklich und unleugbar vom Gegenteil überzeugen. Sehen Sie, mein Glaube ist über zweitausend Jahre alt. Die Doktrinen haben sich geändert und den Zeiten angepasst. Sie sind nicht mehr identisch mit ihrem Ursprung. Ich denke, insofern wäre ich bereit, meinen Glauben – wenn Sie so wollen – den Umständen anzupassen. Schließlich wäre es reichlich dumm, an etwas festzuhalten, nachdem der Beweis vorliegt, dass es falsch ist. Insofern wäre mein Glaube also nicht unerschütterlich. Allerdings brauchte ich in dem Fall wohl eine mehr oder weniger lange Übergangsphase, mich an die veränderten Grundsätze zu gewöhnen. Ist Ihre Frage damit beantwortet?«
Sun-Tarin dachte einen Augenblick über das Gesagte nach. Die Texte auf dem Handspeicher sprachen eine andere Sprache, als die, die ihm sein Glaube vorgab. Er konnte wohl nicht leugnen, dass es sich um Originaltexte handelte. Dafür passten sie einfach zu gut in die anderen religiösen Schriften der Kridan. Sie ergänzten diese sogar in gewisser Weise perfekt. Was Sun-Tarin an ihnen beunruhigte, war allerdings der Grundtenor ihres Inhaltes, der tatsächlich mehr in die Richtung der Lehren Satren-Nors ging als in die der kriegerisch-missionarischen Ansichten der bisherigen Raisas.
»Ihre Antwort ist für mich nachvollziehbar«, gab Sun-Tarin zu. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, kann nichts Sie davon abbringen an Gottes Existenz und Macht zu glauben, aber Sie wären bereit, in einer entsprechenden Situation hinzunehmen, dass der Inhalt Ihres Glaubens – abgesehen von Gottes Existenz – falsch sein könnte.«
»Genau so ist es«, bestätigte William und fragte vorsichtig: »Haben Sie Grund für … solche – oder ähnliche – Zweifel?«
Der Kridan wandte seinen Kopf ruckartig von Bruder William ab und blickte wieder hinaus auf die Ebene. Hatte er Grund dazu, seinen Glauben zu überdenken? Die neu entdeckten Schriften sprachen eine eindeutige Sprache und verlangten genau dies von ihm. Instinktiv wusste der ehemalige Tanjaj allerdings, dass sein Glauben, die Grundfeste seiner Existenz, mit vielen von den Lehren konform ging, die bisher auf Kridania als die wahre Lehre angesehen worden war. Er fühlte sich einfach richtig an. Seine religiösen Ansichten passten so perfekt in sein Bild von Gott und dem Universum, das ER geschaffen hatte, dass sich alles andere als vollkommen unnatürlich anfühlte. Und Sun-Tarin hatte schon immer mehr auf seinen Instinkt gehört, als sich von äußeren Faktoren beeinflussen zu lassen.
Bruder William hatte inzwischen den Handspeicher studiert und sich von der integrierten
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