Sternenfaust - 103 - Das Heiligtum
sie nicht anfassen können, existiert für sie nicht. So wie ich Taglieri einschätze, gehört der zu den Leuten, die auf die Frage, wovor sie Angst haben, antworten: ›Vor nichts, worauf ich schießen kann.‹ Aber auf Telepathie kann man nun mal nicht schießen, weil sie nicht stofflich ist.« Tregardes Stimme triefte beinahe vor Verachtung, ehe er in neutralem Ton fortfuhr. »Aber erinnern Sie sich mal, wie unsere Crew damals auf die Nachricht reagiert hat, dass Bruder William telepathische Fähigkeiten besitzt.«
Frost musste nicht lange nachdenken, um das Bild wieder vor sich zu sehen. Etliche Crewmitglieder und an Bord mitreisende Spezialisten wie Professor Yasuhiro von Schlichten hatten den jungen Mönch nach Bekanntgabe von Tregardes These schlagartig gemieden, als hätte er eine ansteckende Krankheit und hatten so wenig wie möglich mit ihm zu tun haben wollen – aus Angst, dass er ihre geheimsten Gedanken lesen könnte. Natürlich waren Williams Fähigkeiten dafür nicht einmal annähernd ausgeprägt genug, doch allein die Möglichkeit, dass er etwas Intimes auch nur erahnen könnte, hatte ihn für viele Leute an Bord beinahe zu einem Aussätzigen gemacht.
»Sie meinen also auch, Taglieri hat Angst davor, dass es Telepathie gibt?«, vermutete Frost.
Tregarde nickte. »Da bin ich mir relativ sicher. Ein Mann von seiner Intelligenz, der es bis zum Admiral gebracht hat, leugnet nicht derart vehement die nachgewiesene Existenz von Telepathie, wenn nicht ein tieferer Grund dahinter verborgen ist. Stellen Sie sich doch nur mal vor, wie schrecklich es wäre, wenn eine der Säulen des Heiligtums seine Gedanken lesen könnte«, fügte er ironisch hinzu.
»In dem Fall würde ich die betreffende Säule zutiefst bedauern«, entfuhr es Frost spontan und sah Tregarde in die Augen.
Der Arzt gab ihren Blick zurück, und beide fingen spontan an zu lachen.
»Ich glaube«, meinte Frost, nachdem sie sich wieder gefangen hatten, »jetzt brauche ich doch kein Beruhigungsmittel mehr.«
»Ich werde mir dennoch eins genehmigen«, sagte Tregarde augenzwinkernd. »Und zwar einen guten Tropfen Schwarzriesling aus Retulak-Reben von den Wega-Kolonien, Jahrgang 2265. Ein wirklich hervorragender Tropfen. Kommen Sie, Dana, ich lade Sie ein. Wenn mich nicht alles täuscht, ist Ihre Dienstschicht ohnehin seit zwanzig Minuten vorbei. Und sollte jemand daran Anstoß nehmen – abgesehen davon, dass wir das natürlich sowieso keinem auf die Nase binden – können Sie immer mir die Schuld geben und es vollkommen wahrheitsgemäß mit ›Anweisung des Schiffsarztes‹ begründen.«
Frost hob abwehrend die Hände. »Schon gut, Ash, Sie haben mich überzeugt.«
Und wir vergessen den ganzen Kram mal für eine Weile. Unsere Gedanken drehen sich doch nur im Kreis …
*
Solomon, Winterstein und Mary Halova beobachteten den Anflug des Shuttles auf die Ruinen auf TASO-24713-E auf dem Bildschirm wie auch durch das Frontfenster. Winterstein konnte nicht verhindern, dass er eine beinahe kindliche Aufregung empfand. Die Entdeckung des Süd-Tempels auf Aditi war schon eine Sensation gewesen, da nichts in den Aufzeichnungen der J’ebeem darauf hingedeutet hatte, dass es auf einem Planeten gleich zwei Heiligtümer geben könnte. Dass es jetzt auch noch ein drittes in diesem System gab, war unglaublich. Der Wissenschaftler wollte sich keine Sekunde seines ersten Anblicks der Ruine entgehen lassen.
Er überspielte die Ortungsdaten noch während des Anflugs auf seinen Handspeicher und zoomte dort ab und zu einen Ausschnitt heran. Der Tempel hier war aus nicht ersichtlichen Gründen weder verschüttet wie der auf Aditis Südhalbkugel, noch war er derart ausgerichtet wie der am Nordpol von Aditi. Es schien wie das am besten erhaltene Heiligtum der drei, und Winterstein hoffte deshalb auf neue Erkenntnisse.
Als das Shuttle neben den Ruinen landete, waren es wie immer die Marines, die als Erste ausstiegen und die Umgebung gründlich sicherten, ehe sie den Wissenschaftlern gestatteten, sich an die Arbeit zu machen.
TASO-24713-E war wohl früher einmal eine buchstäblich blühende Welt gewesen, doch irgendetwas hatte eines Tages seine Atmosphäre zerstört und alles Leben ausgelöscht. Winterstein vermutete, dass dieselbe Ursache für die fünf Ringe um den Äquatorbereich des Planeten verantwortlich war. Irgendein Mond, Meteoroid oder Asteroid war mit ihm kollidiert, und wie es aussah, war das Heiligtum das einzige Gebäude, das die Katastrophe
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