Sternenfaust - 107 - Spion auf Ganymed
deutete zum Himmel. »Was seht ihr?«
»Zwei helle Monde, ein Haufen Sterne, hier unten Felsen, Geröll und Sand«, sagte ein junger Mann mit tiefschwarzem Haar und dem ungewöhnlichen Vornamen Zenobios.
Meister William seufzte innerlich. Zenobios – Leben des Zeus oder auch Leben durch Zeus , übersetzte er in Gedanken. Man hätte dich besser Cogitatius nennen sollen – den, der nachdenkt, idealerweise bevor er spricht. »Das ist zwar für den Anfang schon mal eine ganz gute Beobachtung«, stellte er fest, und es klang ungewollt ironisch, »aber definitiv kein Meditationsgedicht.«
»Wieso nicht?«, frage Zenobios verständnislos. »Ihr eigenes Meditationsgedicht neulich hörte sich doch ganz genau so an.«
Oder Ignoratius – der Unwissende – wäre auch ein passender Name gewesen. »Nein, Zenobios, das tat es nicht«, korrigierte er den Schüler. »Ein Meditationsgedicht beschreibt eine äußere oder innere konkrete Situation, aus deren fortgedachten Folgen beziehungsweise deren Ursache sich eine neue Perspektive ergibt und neue Erkenntnisse bringt, die, wenn wir über sie meditieren, unserem Geist, unserem Bewusstsein, hilft, eines Tages eine höhere Ebene zu erreichen, ein umfassenderes Verständnis des Seins und natürlich auch Gottes. Das Wissen um diese Dinge ist im Unterbewusstsein jedes denkenden Lebewesens vorhanden, weshalb es jedem Wesen möglich ist, ein solches Gedicht zu verfassen, das ihm selbst – und anderen – hilft, sich weiterzuentwickeln.«
Zwar hörten ihm die jungen Leute aufmerksam zu – das taten sie fast immer –, aber Meister William spürte deutlich, dass es ihnen schwerfiel, seine Erläuterungen zu begreifen. Er blickte erneut auffordernd in die Runde. »Nun also, wer hat ein Gedicht?« Die Antwort bestand aus unbehaglichem Schweigen. William seufzte erneut, dieses Mal hörbar. »Schluss für heute«, entschied er kurz angebunden. »Kehren wir ins Kloster zurück. Doch für die nächste Stunde erwarte ich wenigstens ein einziges vernünftiges Meditationsgedicht.«
Er wartete eine Antwort nicht ab, sondern erhob sich geschmeidig aus seinem Lotussitz und ging mit zügigen Schritten zurück zum Kloster. Die Schüler folgten ihm langsamer.
Frida Gudmundsdottir, die einzige Frau, die es seit fast fünfundzwanzig Jahren geschafft hatte, in der Brüderschule aufgenommen zu werden, blickte Meister William sinnend und mit gerunzelter Stirn nach. Sie konnte sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen, warum er sich so seltsam benahm: ungeduldig. Und diese Eigenschaft passte nicht zu dem Meister William, der sie seit ihrem ersten Tag in St. Garran betreut hatte und die personifizierte Geduld auf zwei Beinen zu sein schien. Und das alles nur wegen eines Meditationsgedichtes – oder dem Mangel eines solchen? Das war absolut nicht seine Art.
Frida warf einen Blick zu ihrem Kameraden Mauritio Abbo hinüber, der den Kopf eingezogen hatte, zu Boden starrte, während er den Weg entlang ging, der zum Kloster führte, und beinahe den Eindruck erweckte, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Dabei hatte sich Meister Williams Verhalten nicht im Mindesten gegen ihn gerichtet. Eigentlich hätte allenfalls Zenobios Grund gehabt, geknickt zu sein, aber der besaß ein überaus robustes Gemüt, das, wie Frida vermutete, wahrscheinlich sogar den größten Ärger wegsteckte, ohne auch nur den Hauch von Selbstzweifeln oder Schuldgefühlen aufkommen zu lassen. Aber ihr war schon des Öfteren aufgefallen, dass Mauritio immer sehr stark auf die Stimmungen derer reagierte, mit denen er unmittelbar zu tun hatte, ganz besonders die von Meister William.
Wie ein Spiegel, der jedes Bild zurückwirft, das er einfängt , dachte Frida. Ich glaube, wir sollten beide mal mit Meister William darüber reden …
*
Ganymed, Star Corps Hauptquartier
Vincent Taglieri saß Admiralin Suzanne Gernet in einem Besprechungszimmer des Star Corps auf Ganymed gegenüber. Die Leiterin der wissenschaftlichen Abteilung des Star Corps hatte einige Routineangelegenheiten mit ihm besprochen, die Taglieri trotz ihrer Notwendigkeit überaus langweilten und kam jetzt zum Ende ihrer Ausführungen.
»Zum Schluss habe ich noch eine Nachricht vom Führungsstab für Sie«, leitete sie eben dieses Ende ein. »In drei Tagen wird der Raisa zusammen mit Satren-Nor und Gefolge bei uns eintreffen. Sein vordringlichstes Interesse gilt der Besichtigung der STERNENFAUST III. Richten Sie also alles dafür her, Admiral. Sie
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