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Sternenfaust - 113 - Abgrund des Geistes

Sternenfaust - 113 - Abgrund des Geistes

Titel: Sternenfaust - 113 - Abgrund des Geistes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anonymous
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Augen schmolz. Alles dehnte sich aus, wurde verzerrt und seiner Dimensionen beraubt. Naturgesetze verloren ihren Sinn, Winkel bogen sich jenseits aller Vorstellungskraft, die Welt war aus den Fugen.
    William konnte sich in dieser Erinnerung nicht rühren, konnte nichts tun, nichts ändern. Er konnte nur da sein, beobachten, spüren.
    Und das für alle, für jeden einzelnen von ihnen!
    Sein Geist war ein Empfangsgerät und fing Gedanken ein, Bewusstseine, die nicht seine eigenen waren. Alles, was geschah, sah er mit Hunderten von Augen. Jeder Schrecken, der sich ihm bot, wurde in seinem Verstand hundertfach potenziert, denn er sah nicht nur seine eigene Umgebung, empfand nicht nur sein eigenes Grauen. Sondern auch das, was alle anderen an Bord empfanden – gleichzeitig. Und nichts, was William in all den Jahren als Mönch, Raumfahrer und Mensch gelernt hatte, konnte ihm jetzt noch helfen. Nichts hatte ihn auf diese Flut des Grauens vorbereitet.
    Aufhören! , schoss es durch seinen Kopf. Gnade! Ein verzweifelter Schrei aus unzähligen Kehlen. William hörte sie kreischen, wimmern. Er spürte, wie sie sich in die tiefsten Winkel ihres Verstandes flüchteten, unfähig das Erlebte zu verarbeiten. Und er fühlte, wie sie dort erloschen, wie ein Lebenswille nach dem anderen verging und ein Widerstand nach dem anderen brach. Geist für Geist gaben sie auf, konnten nicht anders. Die Erfahrung war zu groß, zu irreal für ihren Horizont. Sie starben, zumindest in Gedanken, und gaben sich dem Vergessen und der Dunkelheit hin.
    William wünschte, er könnte es ihnen gleichtun. Oh, wie sehr er sich das wünschte!
    »Aber Sie konnten es nicht, nicht wahr? Sie waren damals gezwungen, es zu erleben, Meister. Den Wahnsinn, den Blick hinter die Grenzen der Rationalität. Für sie alle, an ihrer statt.«
    »Ja.« William – eine zweite, über den Dingen stehende Version seiner Selbst, die das Geschehen mit der sicheren Distanz des Träumenden beobachtete – seufzte. Er war müde, unendlich müde. »Ja, das musste ich.« Worte, in denen die geballte Resignation aus anderthalb Jahrzehnten lag.
    »Potenziertes Entsetzen, gefangen in ein und demselben Geist. Hilflosigkeit im Angesicht des Chaos, hundertfach empfunden. Oh, Sie haben gelitten, Meister. Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen, um von Ihnen zu lernen, was wahres Leid bedeutet. Vielleicht hätte mir diese Erfahrung mein Sterben erleichtert.«
    »Bist du gekommen, um mich zu verspotten?«, fragte der Über-William bitter. »Oder suchst du Rache für etwas, an dem mich keine Schuld trifft? Wie dem auch sei, es ist egal. Es betrifft mich nicht mehr. Denn wärst du wirklich der Mauritio Abbo, der zu sein du vorgibst, würden wir dieses Gespräch nicht führen!«
    Es kicherte im Dunkel jenseits der Erinnerungen. »Ts, ts, Meister Beaufort«, erklang die Stimme erneut. »Muss ich Sie etwa tadeln? Ich habe Ihnen doch schon einmal gesagt, warum ich gekommen bin.
    Um Sie zu holen!«
     
    *
     
    Als William erwachte, abermals schreiend und keuchend vor Angst, fand er sich auf dem Felsvorsprung wieder, den Abgrund vor Augen und die Kraterwand im Rücken. Er zitterte, richtete sich aber alsbald wieder auf, um das klamme Gefühl aus seinen Knochen zu vertreiben.
    So intensiv, so fordernd waren die Träume noch nie gewesen. Und ein irrationales Gefühl sagte ihm, dass dies ein gutes Zeichen war.
    William hatte den St.-Garran-Pfad schon so oft beschritten, ohne Antworten auf seine Fragen zu finden.
    Aber mit einem Mal spürte er, dass es diesmal anders verlaufen würde.
     
    *
     
    Wenige Stunden später hatte der Christophorer den St.-Garran-Krater hinter sich gelassen und marschierte über das Plateau, das die Kraterränder bildeten, hinweg in Richtung seines Ziels, der Siedlung Hillarytown. Hier oben, nahezu dreißigtausend Meter über dem Wasserspiegel des heimischen Kratersees, brauchte er seine Atemmaske mehr denn je. Zwar war William durchaus sportlich und geübt, doch auch für ihn war körperliche Anstrengung in dieser dünnen Atmosphäre unmöglich.
    Zufrieden blickte er auf die Digitalanzeige an seinem Gürtel, die ihn über den verbleibenden Sauerstoffvorrat informierte: genug für noch rund 24 Stunden. Bis dahin sollte er in jedem Fall wieder eine Region erreicht haben, in der er keine Maske benötigte.
    Eine unendlich scheinende Einsamkeit herrschte hier oben auf dem Rand vor, ein wahrhaft majestätisches Gefühl. Wohin er auch blickte, sah er Schluchten und Täler, Abgründe

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