Sternenfaust - 120 - Die Welten der Erdanaar
zumindest bezeichnet. Nicht nur die Tribüne war bis auf den letzten Platz gefüllt, auch hier in der Arena standen die Erdanaar dicht gedrängt. Und Izanagi befand sich mitten unter ihnen. Turanors mentale Kraft hatte den Mönch in diese Erinnerung versetzt.
Am Himmel stand der Zwillingsplanet Helemaiu und bot einen überwältigenden Anblick. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, und Helemaiu leuchtete wie ein riesiger blaugrauer Vollmond. Die Südhalbkugel wurde von weißen Wolkenmassen eingenommen, die sich zum Äquator hin in weiten Spiralen verloren. Auf der Nordhalbkugel waren zwei lehmbraune Kontinente sichtbar, die ein tiefblau strahlender Ozean trennte. An Fjorde erinnernde Einbuchtungen waren zu erkennen, und über Teilen der Kontinente lagen dünne Wolkenschichten wie matter Dunst.
Izanagi blickte sich um und bemerkte, dass die Erdanaar, mit denen er hier in der Arena stand, ihre Gesichter zu Helemaiu erhoben hatten und sämtlich die Augen geschlossen hielten. Wieso genossen sie nicht diesen herrlichen Anblick? Und wie jung sie alle waren! Tatsächlich konnte Izanagi nicht einen einzigen älteren Alendei ausmachen. Auf der Tribüne hingegen – so weit es der Bruder erkennen konnte – waren sämtliche Altersgruppen vertreten. Und wie still es war! Die Erdanaar sprachen ja nicht … Nur ein leises, an- und abschwellendes Rauschen war zu vernehmen. Seine Ursache, so vermutete Izanagi, war wohl in der tausendfachen Summierung all der kleinen Alltagsgeräusche zu finden. Kleiderrascheln, Atmen, Scharren – all das führte zu einem Rauschen von durchaus meditativer Qualität.
Erst jetzt hatte der Christophorer einen Blick für die Unregelmäßigkeit des Stadions. An manchen Stellen hob sich die Tribüne mit sämtlichen Stufen und beschrieb einen Bogen. An anderen Punkten waren es nur einige Reihen, die sich absenkten, als ob sie von einem Hang ins Tal liefen, um dann jenseits der Mulde wieder anzusteigen. Ebenso auffällig zeigten sich die Treppengeländer, deren Handläufe sich teilweise nach oben gebogen und riesige Schnecken gebildet hatten. An manchen Stellen wuchsen filigrane Stangen aus dem Geländer, die wie hypertrophierte Schmetterlingsfühler wirkten. Im Licht von Helemaiu warf sämtliches Baumaterial einen silbergrauen Glanz zurück, und Izanagi erkannte, dass es sich um abgestorbenes Kelaari handelte. Offenbar hatte sich das Stadion nach seiner Errichtung noch weiterentwickelt, ohne dass die Meister der Formung gewillt oder fähig gewesen wären, Kelaari in den Schlaf zu wiegen. Bemerkenswert erschien dem Bruder, dass man darauf verzichtet hatte, nach dem Absterben Kelaaris Korrekturen an den Treppengeländern vorzunehmen. Deren Handläufe erfüllten an vielen Stellen nicht mehr ihren vorgesehenen Zweck, sondern stellten im Gegenteil eine Verletzungsgefahr dar – so zumindest erschien es dem menschlichen Blick. Totem Kelaari würde man nicht wehtun können, und doch hatten die Erdanaar alles so belassen, wie es gewachsen war. Oder war abgestorbenes Kelaari dermaßen hart, dass man es nur schwer bearbeiten konnte?
Izanagi schaute sich weiter um und fragte sich, in welch seltsame Erinnerung er geraten war. Einen sanften Stich der Freude empfand er, als er überraschend Turanor in der Masse der Alendei entdeckte. Er stand nur ein paar Schritte weiter. Und neben ihm – ja, das war Yonar. Sie waren älter geworden, junge Erwachsene, so wie alle hier in der Arena. Die beiden Freunde hatten gleichfalls ihre Köpfe zu Helemaiu erhoben. Ihre ruhigen blassen Gesichter und die geschlossenen Augen vermittelten den Eindruck meditativer Entrücktheit. Was geschah hier? Handelte es sich um eine Art Massenmeditation?
Nein, Izanagi. Wir stehen kurz vor dem Großen Schritt.
Ein wohliges Gefühl durchlief Izanagi. Turanor hatte sich wieder direkt an ihn gewandt.
Ich habe dich und Yonar wiedererkannt. Ihr seid älter geworden …
Ja. Und wir stehen vor dem wichtigsten Ereignis im Leben eines Alendei. Die Zeit der Kindheit und Jugend wird ihr Ende finden. In wenigen Augenblicken werden wir die Schwelle zum Erwachsensein überschritten haben. Aus allen Teilen Helemaiis wurden junge Alendei von ihren Unterweisern hierhin geschickt. Jaaron hat Yonar und mich als reif befunden – und dies vor der Zeit, die ein Alendei gewöhnlich braucht, um gefahrlos den Großen Schritt zu vollziehen. Viel Übung geht diesem Ereignis voraus. Die Kräfte müssen entwickelt werden, und dies benötigt viele Umläufe
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