Sternenfaust - 132 - Das Urteil des Raisa
liegen Leichen. Kridan. Hunderte. Tausende. Und die Sonne ist verschwunden. Es gibt nur Finsternis. Rotorange glüht überall. Ein dumpfer Ton, wie ein Wummern. Er pulsiert. Pulsiert über die bebende Erde, bis es aussieht, als würden die Toten tanzen. Alle liegen sie da. Priester, Krieger, Eierlegerinnen, Geschlüpfte. Ihre toten Augen starren in den aufgerissenen Himmel.« Sie zitterte nun stärker. »Aber das ist nicht alles. Nein. Am Anfang waren es nur Träume.« Sie spürte, wie Flüssigkeit aus ihrem Auge tropfte. »Aber … aber inzwischen sehe ich es auch bei Tag! Es ist wie eine Doppelsicht! Ich blicke auf Matlanor und sehe eine blühende Stadt. Dann sehe erneut über die Wohntürme, und da stehen nur noch Trümmer. Trümmer, zwischen Kratern und Schlünden. Trümmer und Leichenfelder.«
Seran-Pakor zog sie ganz nah an sich. »Was glaubst du, was du siehst?«
»Die Zukunft«, erklärte sie überzeugt.
»Du hast viel mitgemacht, Saha-Fera …«, setzte er zögernd an. »Die telepathische Kontaktaufnahme mit dem Geschöpf Zaruk hat dein Gehirn in Mitleidenschaft gezogen.«
Sie senkte den Schnabel. Bittere Enttäuschung durchflutete sie. »Du glaubst mir nicht.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Ich glaube nicht, dass die Zukunft feststeht. Wenn, dann wäre es nur eine mögliche Zukunft. Es muss nicht unsere Zukunft sein.«
Saha-Fera schwieg. Das Schlimmste hatte sie ihm verschwiegen, weil es nur für sie persönlich schlimm war: Wann immer sie in ihren Visionen an sich herabsah, war sie verschwunden. Sie selbst war in der Zukunft nicht mehr da. Als ob sie schon in wenigen Tagen vom Boden Kridanias getilgt wäre.
Was spielt es für eine Rolle. Wir gehen alle unter.
»Und wenn es wahr wird? Wenn wir den Heiligen Krieg wieder aufnehmen und das unser Untergang ist?«
»Ebenso gut könnten die Schnabellosen uns durch ihre Forschungen allesamt vernichten. Denk an diesen Planeten Hegel III. Was, wenn sie weitere Versuche dieser Art machen? Versuche, die das gesamte uns bekannte Universum destabilisieren?«
»Bitte, überdenke gut, wohin du dein Volk führst. Ich kann ihren Untergang nicht ertragen. Ich kann … deinen Untergang nicht ertragen, Seran-Pakor.«
Er zog sie noch enger an sich. Ihre Schnäbel lagen nebeneinander, nur von einem Lufthauch getrennt.
»Ich habe etwas geschworen, Saha-Fera. Damals, als du hier ankamst. Ich bin der Raisa, und ich darf keine Eierlegerin haben. Man würde jede Eierlegerin töten, die mit mir vor Gott verbunden ist. Deshalb habe ich geschworen, dass du niemals erfährst, was ich für dich empfinde. Aber ich komme nicht dagegen an. Saha-Fera … Ich muss diesen Schwur brechen. Ich muss dich wiedersehen. Außerhalb des Tempels.«
Saha-Fera fühlte, wie sich ihre Federn unter der Gewandung sträubten. »Ich möchte dich auch wiedersehen, Seran-Pakor. Aber es ist zu gefährlich! Nicht nur wegen meines Lebens. Eine Affäre mit mir wird dir schaden, und dein Ansehen im Volk schmälern. Denk an den falschen Raisa! Den zweiten Schlüpfling! Sie warten noch immer auf eine Chance, ihn aus seinem Versteck hervorzuzerren und dir dein göttliches Amt streitig zu machen.«
Er legte seine Klaue sanft um ihren Schnabel. Sie fühlte seine Krallen über die empfindliche Haut an der Seite streifen.
»Der zweite Raisa geriet schon vor langer Zeit in Vergessenheit. Vertrau mir.«
Ihre Stimme klang erstickt zwischen seinen Krallen. »Ich vertraue dir. Aber ich habe Angst.«
»Jetzt bist du hier. Vergiss alle bösen Gedanken. Alle Visionen und Ängste.« Er bog ihren Kopf zurück, zwang sie mit zärtlicher Bestimmtheit, ihren Oberkörper auf dem weichen Moos abzulegen. Ihr schwarzer Umhang klaffte auf. Seine zweite Klaue legte sich über dem grünen Gewand auf ihren Bauch. Auf die empfindliche Stelle, die Lust weckte.
»Seran-Pakor«, klackerte sie erstickt in seine Klaue.
»Still«, wies er sie an. »Wir wissen beide, dass wir schon viel zu weit gegangen sind. Das, was zwischen uns ist, lässt sich nicht leugnen.« Er beugte sich über sie. Die Spitze seines Schnabels pickte in ihr Gefieder nahe dem Hals. Zärtlich. Fordernd.
Saha-Fera gab ihre Gegenwehr auf. Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken – und erstarrte! Da war eine Verhärtung auf der Haut zwischen den dünnen Federn!
Seine Wunde! , dachte sie alarmiert und ließ sofort wieder los. Zweifel regten sich in ihr. Es hatte sich nicht angefühlt, wie eine Wunde. Aber was war es dann?
»Was ist?«, klackerte
Weitere Kostenlose Bücher