Sternenfaust - 152 - Am Scheideweg (2 of 2)
dieser Junge ist tot. Er ist tot, weil ich ihn umgebracht habe.«
Vince hatte vermutet, dass an dieser Stelle ein Raunen im Publikum einsetzen würde. Doch alle blieben still.
»Sein Name war Adric. Siebzehn Jahr alt, klein, braune Haare, Sommersprossen, Stupsnase. Und nervtötend. Hochintelligent, wissbegierig, freundlich. Er sollte mein Schüler sein. Er sollte mich im All begleiten. Eine Idee, die ich stets für reinen Irrwitz hielt. Das All bereisen, das heißt: Kriege, Krisen, Konflikte. Es ist anstrengend. Man trägt eine hohe Verantwortung. Für die Menschen, die unter einem dienen. Aber auch für die Menschheit, die man repräsentiert. Und als ich mich endlich an den Gedanken gewöhnt hatte, entpuppte sich dieser Junge, der Junge, der monatelang mein Vertrauen und das meiner Crew genoss, als hochgefährliche Nemesis. Er war ein Orphane.«
Jetzt war es da. Das Raunen aus zweitausend Kehlen.
»Als sich mir die Gelegenheit bot, habe ich diesen Orphanen vernichtet. Ich schoss auf ein Wesen, das älter war als die Menschheit.«
Erneut nahm Vince einen Schluck aus dem bereitstehenden Becher und bedauerte, dass es kein Hypnohol war.
»Mister Cifaretto hat recht. Mit allem, was er sagt. Das All birgt unzählige Gefahren. Heimtückische Gefahren. Es gibt Hinterhältigkeiten. Intrigen. Kämpfe. Kriege, die an Grausamkeit sogar noch alles übersteigen, was sich bislang auf der Erde abgespielt hat. Konflikte, die wir allein durch unsere Unwissenheit auslösen, und die dann Tausende das Leben kostet. Das All ist kalt. Grausam. Gnadenlos. Endlos. Wer je mitten im Nichts an einem Raumschifffenster stand, kennt das Gefühl. Man glaubt, in einen endlosen Abgrund zu blicken und fragt sich, warum man nicht zu Hause geblieben ist.«
Nun, zum ersten Mal seit Beginn seiner Rede, lächelte Taglieri.
»Im All gibt es böse Mächte, welche die Gestalt eines harmlosen Jungen annehmen. Es gibt Mental-Parasiten, die den Willen von Herrschern brechen und sie einen sinnlosen Krieg befehlen lassen. Es gibt Wesen dort draußen, die in der Lage sind, ganze Welten zu vernichten. Wesen, denen es egal ist, wenn dabei Leben vernichtet wird. Wesen, für die wir nicht mehr sind als Ameisen. Wenn Sie alle es für Wahnsinn halten, sich dort hinauszuwagen, dann ist das ist gutes Recht. Vielleicht musste tatsächlich erst die Apokalypse in greifbare Nähe gelangen, damit wir erkennen, wie kostbar und wundervoll unsere Erde ist, und dass es gar keine Gründe gibt, dort draußen nach etwas Besserem, ja, vielleicht sogar nur nach etwas Vergleichbarem zu suchen.«
Wieder machte Vince eine Pause. Aus den Augenwinkeln sah er das verblüffte Gesicht des Moderators. Er musste ein Lächeln unterdrücken, wenn er an das Gesicht von Jasper dachte, das im Moment sicher rot angelaufen war.
»Doch dann hören wir auch auf, Menschen zu sein!«, rief Vince nun mit lauter Stimme. »Denn, ob Sie es wollen oder nicht: Es steckt uns im Blut. Es ist Teil unseres Wesens. Schon als die ersten Lebewesen das Element des Wassers verließen und das Festland besiedelten, taten sie etwas Unvernünftiges. Aber so ist der Mensch. Er verkriecht sich nicht zu Hause hinter dem Ofen. Er erforscht seine Umwelt. Mit riesigen Schiffen begab sich der Mensch in den stürmischen Ozean, um neue Kontinente zu erforschen.
Er erklomm Berge bis in schwindelerregende Höhen. Und er träumte seit Jahrtausenden davon, hinauf zu den Sternen zu reisen. Wir leben in einer Zeit, in der dieses Wunder, von dem die Menschheit so lange träumte, wahr geworden ist. Und wir sollten dankbar dafür sein. Denn dort draußen sind sie: die Wunder! Dort draußen ist der Ursprung von allem. Dort draußen sind die Antworten auf unsere Fragen! Das All dort draußen zeigt uns, wer wir sind. Was wir sind.«
Nun gab es erstmals Applaus, und Vince wartete, bis er sich gelegt hatte.
» Ulisses’ neu’re Welten erwarten uns. Sie sind ein Teil von uns, auch wenn wir sie noch nie sahen. Nur dort draußen kann unsere Neugier gestillt werden. Eine Neugier auf das Leben im All! Und Sie werden sehen: Dort im All lauern nicht nur Gefahren und Feinde. Es lauern auch die Freunde von Morgen. Wunder. Legenden. Dort draußen ist unsere Zukunft.«
Ein Nicken. Ein kurzer, knapper Blick nach rechts, doch Pennington schwieg. Hatte nichts zu bieten, nichts zu sagen. Alles war gesagt.
Kapitel 6 – Wie Salz in offenen Wunden
STERNENFAUST, 26. November 2271
»Hypertonische Krise. Blutdruck bei 210 zu 150.
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