Sternenfaust - 193 - Der stählerne Stern
den leeren Tempelsaal mit langen Schritten durchmessen und war schließlich im Meditationsraum des Kuhan’jaali angelangt.
Ken’gewas vom Kerzenschein beleuchtetes Gesicht blickte ärgerlich zu Vu’maiti hoch.
Der Kuhan’jaali saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem dicken, kunstvoll gewebten Teppich. In einer breiten, flachen Schale glühten Nai’bu-Krümel und füllten den Raum mit ihrem süßlichen Duft.
»Ich hoffe, Ihr habt einen guten Grund, mich in meiner Kipawa-Ten’brikum-Meditation zu stören, Vu’maiti.«
»Kuhan’jaali!«, rief Vu’maiti atemlos. »Es gibt wohl keinen Grund, der gerechtfertigter wäre, als der meine. Das, was wir seit Urzeiten erhoffen und ersehnen, scheint eingetreten zu sein. Ich war Augenzeuge, Ken’gewa. Und nicht nur ich allein.«
»Wovon sprecht Ihr?«, fragte Ken’gewa mit knurrendem Unterton und erhob sich schwerfällig von seinem Meditationsteppich.
»Die Prophezeiung, Ken’gewa. Die Tar’tarishi scheint herabgestiegen zu sein!«
»Was?« Ken’gewas Gesicht erstarrte. Doch überraschend schnell wurden seine Züge wieder weicher. »Beschreibt mir genau, was Ihr glaubt, gesehen zu haben!«
»Einen stählernen Stern mit einem Flammenschweif. Exakt so, wie es in der Prophezeiung überliefert wird. Er glänzte hell wie poliertes Metall und zog einen Schweif aus Feuer und Rauch hinter sich her. Habt Ihr jemals so etwas gesehen, Ken’gewa?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Nicht bis zum heutigen Tag. Ich bin überzeugt davon, dass die Prophezeiung wahr wurde, die da lautet: Einst wird die Tar’tarishi herabsteigen in einem flammenden stählernen Stern, und sie wird die heilige Hochzeit mit Ak’lothum vollziehen, auf dass er herausgeführt werde aus dem Chin’yardhi und sich zur göttlichen Botin geselle, die da thront über den zwölf Gottheiten. In ihrem Schutz wird Ak’lothum in alle Ewigkeit geborgen sein, der Bedrängung durch Ten’brikum entrissen.« Die alten Worte, die sie unzählige Male in ihren Predigten gesprochen hatte, gingen Vu’maiti wie von selbst über die Lippen.
Ken’gewa schloss für einen kurzen Moment die Augen. »Wo ist der Stern niedergegangen?«, fragte er knapp.
»Über Witum’kubwa.«
»Es wäre immerhin denkbar, dass es sich lediglich um eine natürliche Erscheinung handelt, so wie die Sternschnuppen bei Nacht.«
»Daran dachte ich auch. Doch ich verwarf die Möglichkeit nach nur einem Atemzug. Ihr selbst gabt zu, nie etwas Derartiges gesehen zu haben. Kein Tum’waheri sah jemals dergleichen. Aber was noch bedeutsamer ist: Ich fühlte mit aller Deutlichkeit, dass es die Tar’tarishi ist, die endlich auf Wen’gulim hernieder stieg. Und in den Herzen der umstehenden Passanten sah ich dieselbe Gewissheit!«
Ken’gewa nickte ernst. Dann blickte er Vu’maiti in die Augen. »Der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig. Ten’brikum wird in weniger als einem Tag herabsteigen.«
»Dennoch müssen wir handeln, Kuhan’jaali! Wir sollten sofort ein Jesh’kuwinda nach Witum’kubwa aussenden, das sich auf die Suche nach der Tar’tarishi macht!«
»Wie denn?«, rief Ken’gewa mit leicht ärgerlicher Stimme und hob die Hände. »Mit Ausnahme des dritten Jagd-Trupps, der vor einer knappen Kas’arobo zurückkehrte, befinden sich sämtliche Jesh’kuwindas auf der Jagd. Die Jäger sind völlig erschöpft.«
»Ich selbst werde das dritte Jesh’kuwinda begleiten und die Jäger anspornen, wenn Ihr es gestattet, Ken’gewa! Jegliche Erschöpfung kann überwunden werden, wenn es wahr ist, dass wir heute den großen und lang ersehnten Tag erleben!«
Erneut schloss Ken’gewa für einen kurzen Moment die Augen. »Das Mahal’vukito ist nicht so dicht gefüllt, wie wir es in anderen Jahren vermochten«, sagte er langsam. »Wir haben die Anzahl der Tum’duni über die Zeiten hinweg zu stark verringert. Ihre Lager sind längst nicht mehr so groß wie früher. Wenn ich Ak’lothum aufsuche, um ein neues Ziel für das dritte Jesh’kuwinda zu erbitten, so darf es nur ein weiteres Tum’duni-Lager sein, denn im Augenblick muss es allein darum gehen, Ten’brikum nicht zu erzürnen.«
»Aber wenn die Tar’tarishi tatsächlich herabgestiegen ist, so haben sich die Zeiten erfüllt, Ken’gewa. Ak’lothum wird heimgeführt in den Schutz der göttlichen Botin.«
»Doch die Prophezeiung sagt nur, dass Ak’lothum der Bedrängnis durch Ten’brikum entrissen wird. Sie sagt nicht, was mit uns wird. Sie sagt nicht, wie sich das Schicksal der
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