Sternenfeuer: Gefährliche Lügen
viktorianische Erzählungen mit ihren Beschreibungen des englischen Landlebens, Vogelgesang und vornehmen Manieren. Die Beschreibungen waren so ausführlich, dass sie sich fast vorstellen konnte, wie es war, an einem Ort zu stehen und den Horizont sehen zu können – mit nichts über sich als dem Himmel. Nachmittags würde sie sich ein Bad einlassen und sich eine Stunde einweichen, ehe sie loslief, um Kieran in den Obstgärten zu treffen. Jetzt aber gab es weder Bad noch Bücher. Nur groben schwarzen Stoff, der auf der Haut kratzte, und ein Kopftuch, das ihre Haare bedeckte und mit dem sie sich lächerlich vorkam.
Die Matronen führten die Mädchen in Doppelreihe mehrere Treppenabsätze im zentralen Treppenschacht hinab bis zur Getreidekultur, dem größten Raum im Schiff.
Hunderte trieben sich zwischen den Reihen jungen Weizens herum, sprachen miteinander und lachten. Alle trugen ausnahmslos Schwarz: die Frauen formlose Kleider, die ihnen bis auf die Knöchel hingen, die Männer Joppen und Leggings. Waverly sah Amanda und Josiah, die ihr durch die Reihen von Weizenhalmen hindurch zuwinkten. Sie rang sich ein gekünsteltes Lächeln ab und winkte zurück.
Im Gänsemarsch gingen die Mädchen zwischen den Weizenreihen zu einem Acker, der bereits abgeerntet worden war. Unter dem großen Rundfenster, das in den verschleierten Himmel blickte, war eine Bühne aufgebaut worden. In der Ferne entdeckte Waverly ein paar Sterne, die durch den Dunst lugten. Sie hoffte, dass das bedeutete, dass sie sich dem Rand des Nebels näherten.
Eine Matrone deutete auf die ersten Stuhlreihen, und die Mädchen setzten sich. Josiah betrat mit einer kleinen Gitarre die Bühne, setzte sich auf einen Stuhl, zwinkerte Waverly zu und begann, an den Saiten zu zupfen. Seine Musik hallte durch den höhlenartigen Raum und schien zwischen den getrockneten Halmen hindurchzurieseln, die über den Köpfen der Kirchengemeinde hingen. Pastorin Mather saß in einem geschnitzten hölzernen Sessel, links und rechts von ihr ein älterer Mann und eine Frau, die jeweils ein schwarzes Buch hielten. Bibeln, wie Waverly vermutete. Im Gegensatz zum Rest der Gemeinde trugen die drei weiße Roben. Anne Mather war darüber hinaus in einen elegant bestickten Mantel in Rot, Purpur und Gold gehüllt, ein ebenso besticktes Tuch bedeckte ihr Haar. Es waren die einzigen farbenfrohen Kleidungsstücke im ganzen Raum.
Nach und nach nahmen auch alle anderen Platz, und als die Musik schließlich erstarb, erhob sich Anne Mather und ging zu einem Altar im Zentrum der Bühne.
»Seid willkommen an diesem Ort zum zweitausendzweihundertfünfzigsten Sonntag auf unserer Reise nach New Earth. Friede sei mit euch.«
»Und Friede sei mit dir«, antwortete die Gemeinde unisono.
»Ich möchte insbesondere unsere Gäste an Bord begrüßen: die Flüchtlinge von der
Empyrean,
deren Anwesenheit ein Quell großer Freude für uns alle ist. Mädchen, bitte steht auf.«
Widerwillig erhob sich Waverly, und die anderen Mädchen folgten ihrem Beispiel. Die Letzte, die aufstand, war Samantha, die ihre Schultern abweisend nach unten zog.
Mather ging über die Bühne, um über den Mädchen zu stehen, und streckte ihre Hände mit den Handflächen nach unten aus. »O Allmächtiger, wir bitten dich, diesen Mädchen zu helfen, eine Heimat an Bord unseres Schiffs zu finden. Wir fragen nicht, wieso es dein Wille war, sie von ihren Familien zu trennen. Wir müssen es akzeptieren und unser Bestes geben, unsere Pflicht dir gegenüber zu erfüllen – für das Heil unserer unsterblichen Seelen und für das Heil all der folgenden Generationen auf New Earth. Wir werden jede Widrigkeit meistern, um unsere Bestimmung zu erfüllen.«
Dann nahm Mather erneut ihren Platz hinter dem Altar ein, lächelte auf ihre Gemeinde herab und hob die Hände. Sie schien von innen zu glühen, und Waverly nahm an, dass irgendein spezieller Scheinwerfer auf sie gerichtet war – ein billiger Trick, um sie heilig erscheinen zu lassen.
»Lasst uns der Weisheit Gottes danken, dass er diese Mädchen gerettet und hierhergebracht hat, um sich unserer Familie anzuschließen. Danke, o Herr, dass du ihnen das Schicksal erspart hast, das unseren Brüdern und Schwestern auf der
Empyrean
widerfahren ist. In deiner Weisheit hast du in die Herzen dieser Mädchen geblickt und sie deiner Gnade für würdig befunden. Wie Israel, das aus der Knechtschaft des Pharaos floh, sind unsere jungen Schwestern auf der Suche nach einem neuen Leben nach
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