Sternenkinder
die Überlebenden einen Platz in den Wolken – sie lebten im Innern von Wassertröpfchen, kleine Stäbchen und Filamente, die sich so schnell vermehrten, dass Generationen vergingen, bevor die Tröpfchen zerfielen. Bald war der verlorene Boden nicht einmal mehr eine biochemische Erinnerung. Sie lernten, sich zu spezialisieren; da es dort oben jede Menge Schwefelsäure gab, war es sinnvoll, einen Stoffwechsel auf Schwefelbasis zu haben. Und genau das fanden die ersten menschlichen Forscher vor: eine komplette Flora und Fauna in den Wolken, ohne Mehrzeller, aber in mancher Hinsicht ebenso exotisch und komplex wie das Leben auf der Erde oder dem Mars. Doch der venusianische Kohlenstoff war einfach zu wertvoll.«
»Und das einheimische Leben?«
»Wie ich gehört habe, finden sich noch ein oder zwei Petrischalen in den Museen.« Das schattenlose, grelle Licht der Venus brannte ihm jeden Ausdruck aus dem Gesicht, sodass Pirius nicht mit Sicherheit sagen konnte, was der Kommissar von diesem uralten Xenozid hielt.
25
Einen Monat nach dem Einsatz auf dem Fabrik-Stein begann man auf der Quin-Basis wieder mit der Ausbildung.
Zuerst waren es hirnlose Fitnessübungen. Danach kamen elementare Bodenoperationen: Gräben ausheben, Bewegungen in offenem Gelände. Die neuen Züge lernten, gemeinsam zu operieren. Genau wie in alten Zeiten, dachte Pirius Blau.
Für ihn hatte sich jedoch alles verändert. Jetzt, wo Pirius ein Veteran war, wenngleich nur ein einfacher Soldat und obendrein einer vom Versorgungskorps des Heeres, erwartete man von ihm, dass er seine Erfahrungen an seinen Zug neuer Rekruten mit schwarzen Pupillen weitergab. Deshalb übernahm er bei den Übungen die Führung und zeigte ihnen, wie man sich in den Boden des Asteroiden grub, ohne elektrostatisch aufgeladenen Schmutz auf das Visier zu bekommen.
Es war ein gutes Gefühl, wieder Verantwortung zu tragen, dachte er. Aber am meisten genoss er die Fitnessübungen, selbst die sinnlosen Runden um Martas berühmten Strafkrater. Er lief und lief, bis sich seine komplizierten Gedanken in einem Kenotoxin-Nebel auflösten.
Eines Nachts kam er auf der üblichen Route durch Luftschleusen und Anzugstationen von der Oberfläche zurück und humpelte zu seiner Koje. Seine Gliedmaßen waren steif, alles tat ihm weh, und er wollte nur noch schlafen und die Anstrengungen des Tages hinter sich lassen.
Aber die Kojen um ihn herum waren leer. Sogar Tili war fort – und Cohl auch.
Pirius legte sich hin und massierte sich die schmerzende Schulter. Er schaute in die Schatten hinauf. Seine neuen Augen veränderten den Blick auf die Welt, selbst auf eine banale Szene wie diese, wenn auch nur an den Rändern. Man sah neue Farben, denen die Kadetten Namen wie scharfviolett und blutig rot gaben. Und man erkannte neue Einzelheiten. Er konnte den warmen Atem sehen, der in sich kräuselnden Knoten der Turbulenz aus seinem Mund nach oben stieg und träge an die Koje über ihm klatschte. Sinnlose Schönheit.
Wo waren sie alle? Nun, was ging es ihn an? Aber die Neugier gewann die Oberhand. Außerdem fühlte er sich sonderbar einsam; nach Monaten in dieser vollgestopften Kaserne war er fast schon süchtig nach Gesellschaft.
Er rollte sich aus der Koje.
Barfuß tappte er durch den Mittelgang der Kaserne. Es war ruhiger als sonst, kaum jemand war da, die übliche Ausgelassenheit, die Streitereien, das Flirten und der Sex waren gedämpft. Aber er hörte eine einzelne klare Stimme, die leise und stetig sprach.
Er bog um eine Ecke und stieß auf eine Menschenmenge.
Diese Bürde Wird Vergehen stand lächelnd und mit weit ausgebreiteten Händen auf einem umgekippten Spind. Vor ihm hockten Soldaten und Kadetten auf dem Boden oder dicht an dicht auf Kojen, wo sie sich mit der beiläufigen Intimität der Vertrautheit aneinander drängten. Es waren vielleicht fünfzig, die sich hier um Bürde versammelt hatten.
Pirius setzte sich im Schneidersitz hinten auf den Boden. Die Kadetten rückten ein wenig beiseite, um ihm Platz zu machen, aber am Schluss drängten sich doch warme Körper links und rechts an ihn. Er schaute sich um und sah Tili Drei und Cohl. Bürde bemerkte ihn, und Pirius glaubte, dass er ihn mit einem Zwinkern begrüßte. Aber er unterbrach seinen schwungvollen Redefluss nicht.
Bürde sprach über seine Religion, den Glauben der »Freunde«.
»Entropie«, sagte er. »Stellt es euch so vor. Man fängt mit hundert Mann in einer Kompanie an. Die Hundert verlassen einen
Weitere Kostenlose Bücher