Sternenkinder
trostlosen Schützengraben. Zehn sterben auf der Stelle, weitere zehn werden getroffen und verwundet. Achtzig gelangen also zur nächsten Feldschanze. Und dann das Ganze noch mal von vorn, Jungs, wieder fallen zehn, wieder werden zehn verwundet… und immer so weiter. Das ist Entropie, alles nutzt sich langsam ab, Leben werden ausradiert. Es ist gnadenlos.« Er schlug sich mit der Faust in die offene Hand. »Aber Entropie gibt es überall. Vom Augenblick unserer Geburt bis zu dem unseres Todes hängt unser Leben von Maschinen ab. Die Entropie wirkt sich auch auf sie aus; sie nutzen sich ab. Wenn wir das einfach hinnähmen, dann würden die Luftmaschinen, die Wassermaschinen und Nahrungsmaschinen eine nach der anderen versagen, und ein paar Tage später wären wir tot. Aber wir nehmen es nicht hin. Alles nutzt sich ab. Na und? Man repariert es.«
Die glatten jungen Gesichter der Kadetten, die sich so ähnelten, wenn man sie alle zusammen sah, waren wie Bündel kleiner Antennen auf Bürde gerichtet, und ihre metallisierten Augen glänzten. Tilis noch junges Gesicht war von Kummer gefurcht. Doch während Bürde redete, sah Pirius, wie die Furchen verschwanden und ihre Augen klar wurden. Sie lächelte sogar über Bürdes klägliche Witze. Bürde mochte viel Unsinn reden, aber es war offenkundig tröstlicher Unsinn; Pirius hätte es niemals vermocht, mit Worten solchen Trost zu spenden. Er fragte sich jedoch, wie Bürde sich tief im Innern fühlte, wenn er den Schmerz dieser verletzten Kinder in sich aufnahm.
Und es war ohne jeden Zweifel undoktrinell.
Bürde sprach weiter. »Wir werden nicht viel länger leben. Keiner von uns. Aber unsere Kinder werden überleben, und unsere Kindeskinder, eine unendliche Kette des Blutes und der Kraft, die bis in alle Ewigkeit reicht, bis ans Ende der Zeit.
Und am Ende, in einer zeitartigen Unendlichkeit, in der sämtliche Weltlinien aller Partikel, aller Sterne im ganzen Universum und aller Menschen zusammenfallen, die jemals gelebt haben, werden unsere Nachfahren die Letzte Beobachterin treffen – nein, zur Letzten Beobachterin werden. Und dann wird das letzte Bewusstsein die letzte Beobachtung machen und die letzten Gedanken formen. Und alles wird gereinigt werden.« Er wedelte mit einer Hand. »Das alles, all unser Kummer und Leid, wird vergehen – denn es wird nie geschehen sein. Das Universum ist einfach nur eine störrische Maschine. Jeder von euch könnte einen kaputten Luftreiniger oder Biotornister reparieren. Eines Tages werden wir das Universum selbst reparieren!«
Tili Drei meldete sich zu Wort. »Aber Michael Poole hat nicht auf die zeitartige Unendlichkeit gewartet.«
»Nein.« Bürde lächelte. »Michael Poole ist in die Zukunft gegangen. Er hat sich geopfert, um seine Kinder, unsere Kinder zu retten. Er ist bei der Letzten Beobachterin – ist bei ihr, war bei ihr und wird immer bei ihr sein…«
Die Zuhörer stellten weitere dezente Fragen. Nur Cohl ging härter zur Sache. »Woher weißt du das? Sollen wir das einfach so glauben?«
Bürde ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Natürlich nicht. Vergangenheit und Zukunft sind nicht festgelegt; die Geschichte kann verändert werden – tatsächlich ändert sie sich permanent. Das weißt du, Cohl. Du hast einen Einsatz überlebt, der aus der Zeitlinie gelöscht wurde. Also weißt du, dass die Möglichkeit wirklich besteht. Es ist keine große Glaubensanstrengung nötig, um sich vorzustellen, das irgendjemand eines Tages eine zielstrebige Veränderung – eine intelligente Veränderung – vornehmen und all unsere Tränen auslöschen wird.«
Cohls Gesichtsausdruck war vielschichtig. Ihre skeptische Maske blieb. Aber sie wollte glauben, erkannte Pirius schockiert; selbst Cohl, früher einmal eine ultra-orthodoxe Druzitin. Sie mochte den Mann mit Argwohn betrachten, aber sie lauschte seinen Worten und schien Bürdes seltsamen, tröstlichen Glauben annehmen zu wollen.
Ein kleines Virt schob sich vor Pirius’ Augen: Es war Captain Martas Gesicht. »Kommen Sie in mein Büro, Soldat. Wir müssen uns unterhalten.«
Mit einer Mischung aus Bedauern und Erleichterung schlich sich Pirius aus der kleinen Gemeinde fort. Niemand schien es zu bemerken.
Martas Büro war unglamourös: eine abgeteilte Ecke der Kaserne, nur möbliert mit einer Koje und einem Tisch mit einem unordentlichen Stapel Data-Desks darauf. Der einzige Luxus schien eine Kaffeemaschine zu sein. In einer Ecke befand sich jedoch eine Art Nische, wie
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