Sternenkinder
die Idee, Raumzeitdefekte als Antriebsbasis zu nutzen? Es hat tatsächlich einmal eine Zeit gegeben – kurz nach der Urknall-Singularität –, da waren sie gang und gäbe, denn die ordentliche Struktur der aufgeblähten Raumzeit, die wir bewohnen, hat sich erst noch herausgebildet. Es gab Punkte, Schleifen, Flächen…«
»Die Punktdefekte sind Monopole.«
»Ja. Deshalb sind Monopole nützliche Waffen – ein Defekt kann einen anderen beeinflussen. Außerdem war die Raumzeit stark gekrümmt. Angenommen, man hätte damals ein Antriebssystem entwickelt, dann hätte man wohl naturgemäß Defekte und Raumzeitschwimmen als Fortbewegungsmethode gewählt. Heute ist es aber ganz und gar nicht mehr so nahe liegend – das war es ohnehin nur in den Mikrosekunden nach der Singularität. Also, weshalb verwenden sie diese Technik? Und dann ist da die Frage der Xeelee selbst. Wo sind sie?«
Dieser Gedankensprung verwirrte Pirius. »Sir?«
»So gründlich ich dieses Schiff auch untersuche, ich finde nur Maschinen, Schicht um Schicht. Keine Spur von einer Crew!«
»Ich weiß nicht, was das bedeutet.«
»Ich auch nicht – noch nicht.« Der riesige, geisterhafte Virtuelle beugte sich vor, und ein glänzendes Auge von der Größe einer städtischen Konurbation ragte erwartungsvoll über Pirius auf. »Trotzdem glaube ich, dass wir Fortschritte machen. Das Wort ›Chandra‹ ist sehr alt, weißt du – es stammt noch aus der Zeit vor der Besatzung. Manche sagen, das schwarze Loch sei nach einem Wissenschaftler des Altertums benannt. Andere meinen, das Wort bedeute ›leuchtend‹. Tja, wenn es wirklich ›leuchtend‹ heißt, dann glaube ich nicht, dass Minister Gramm gerne sehen wird, was Chandra für uns zu erleuchten beginnt!«
12
Torec kletterte in den Überresten einer Fabrik für exotische Materie herum. Sie war allein, und ihr Hautanzug hatte dunkelgraue Mondstaubflecken.
Die Fabrik war vor zwanzigtausend Jahren von den Qax erbaut worden, den außerirdischen Besatzern der Erde. Nach der Rebellion und der damit einhergehenden Vertreibung der Qax aus dem Sol-System hatte man sämtliche Maschinen herausgerissen und das Dach zum Einsturz gebracht, sodass die Räume nun offen unter dem schwarzen Himmel lagen. Es waren immer noch kleine Detonationskrater und Trümmerstücke zu sehen, Überbleibsel jenes lange zurückliegenden Aufruhrs. Und die kahlen Mauern standen noch, rissige Flächen aus Mondbeton, die lange, scharfe Schatten über den welligen Staub des Mondbodens warfen.
Während Pirius mit einem Nachtjäger zwischen den Saturnmonden herumkurvte, saß sie nun schon seit einem Monat hier fest. Es waren noch drei Wochen bis zu dem Termin, den Gramm ihnen gesetzt hatte; dann würde Nilis unwiderruflich den Prototyp des GZK-Prozessors, seines Zeitreisecomputers, vorführen müssen. Torec wünschte sich, dass diese Wochen endlich vorbei wären.
Sie war sich immer der Erde bewusst, die hoch oben am Himmel stand. Der gewaltige Bogen der Brücke war leicht zu erkennen – atemberaubend, unnatürlich, auf beunruhigende Weise der Logik trotzend. Und sie sah die gestaffelten Verteidigungseinrichtungen, die den Heimatplaneten umgaben: die kreisenden Schneeflocken, die dahinkriechenden Pünktchen patrouillierender Kriegsschiffe. Selbst von ihrem Mond aus betrachtet, starrte die Erde von Festungsanlagen.
Nur in diesen Ruinen, einen halbstündigen Fußmarsch von der Entwicklungsbasis entfernt, fühlte Torec sich wohl. Wenn sie hier herumlief, verdeckten die zerklüfteten Mauermassen das leuchtende Blau der Erde, und sie konnte sich einbilden, weit weg zu sein, fernab vom Sol-System. Und das Beste war, dass die Erdenwurm-Techniker, mit denen sie zusammenarbeiten musste, nie hierher kamen.
In ihrem Helm erklangen die leisen Glockentöne eines Alarms. Der letzte Integrationstest, ein umfassender Probelauf des GZK-Prozessor-Prototyps, sollte gleich beginnen. Er würde natürlich stattfinden, ob sie nun dort war oder nicht. Aber sie hatte ihre Aufgaben zu erfüllen.
Sie machte kehrt, trat ins Sonnenlicht hinaus und überquerte die Ebene mit großen Sätzen, wobei ihre Beine in einem angenehmen Niedrigschwerkraftstil zusammenarbeiteten.
Torec nahm ihren Platz auf dem niedrigen Kamm ein, der als Beobachtungsbereich ausersehen war, und stellte fest, dass bereits ein Countdown lief, eine kontinuierliche Abfolge lautlos aufblinkender Ziffern auf Überwachungsdisplays. Techniker standen geduldig herum, Roboter schwebten in
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