Sternenlaeufer
ihr Tun vor sich ablaufen lassen und daraus die Gründe abgeleitet, warum sie etwas getan hatte, Gründe, die sie als eine starke, kluge, brillante Frau zeigten. Um die Wahrheit zu sagen: Als er zum ersten Mal die Geschichten gelesen hatte, die sie im Alter diktiert hatte, hatte er sich ein wenig in sie verliebt. Aber wenn er in ihr anfangs eine Kombination aus seiner stolzen Mutter, seiner feurigen Tante Sioned und seiner formidablen Großtante Andrade gesehen hatte, so trug sie in den letzten neun Jahren in seinen Gedanken immer mehr Alasens Gesicht.
Nur Sorin hatte jemals Andrys Verzweiflung darüber, dass er Alasen verloren hatte, wirklich verstanden. Jetzt hatte man ihm diesen Trost ebenso genommen wie Alasen selbst. Drei Kinder hatte sie Ostvel inzwischen geboren: zwei Töchter, Camigwen und Milar, und den Sohn, der vor zwei Sommern zur Welt gekommen war. Sorin, der in Geschäften für Pol in der Felsenburg gewesen war, als Dannar geboren wurde, hatte berichtet, dass das rote Haar, das mit Sioned aus der Linie von Kierst verschwunden gewesen zu sein schien, in Alasens Sohn deutlich zurückgekehrt war. Sorin hatte gewusst, dass Andry sich nach Nachrichten über sie verzehrte, nach jedem Fetzchen Information, das beweisen konnte, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war. Er war kein selbstsüchtiger Mann und auch nicht rachsüchtig; er mochte sie noch immer und wünschte ihr Glück. Und doch war es, als hätte er einen kranken Zahn, der schmerzte und sich unmöglich vergessen ließ.
Seine Wut auf das Leben, weil es ihn zum einzigen Mann gemacht hatte, den Alasen gleichermaßen liebte und fürchtete, war verblasst. Er hatte ihr sogar kleine Geschenke zur Geburt ihrer Kinder geschickt. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass wenigstens eines und möglicherweise alle drei die Faradhi- Gabe hatten – und er wollte, dass ihre Kinder wurden, was Alasen niemals sein wollte. Oder anders gesagt: Die Lichtläufer konnten es sich nicht leisten, auf die Kraft des Erbes aus Kierst zu verzichten, aus dem Sioned und Pol hervorgegangen waren. Für sich persönlich wollte Andry die Verbindung, die diese Kinder zu ihrer Mutter darstellen würden. Er würde ihre Ausbildung überwachen und sie als Menschen kennenlernen, die seine Töchter und sein Sohn hätten sein können.
Er hatte sogar aufgehört zu denken, dass sie seine hätten sein sollen. Sorin hatte ihm zu erkennen geholfen, dass der wahre Ausdruck seiner Liebe darin bestanden hatte, sie gehen zu lassen. Zwar glaubte er eigentlich noch immer, dass sie ihr größtes Glück und ihre Erfüllung an seiner Seite gefunden hätte, wenn Lichtläufer-Ringe an ihren schlanken Fingern gefunkelt hätten. Aber sie hatte für sich wählen müssen. Er hatte gelernt, damit zu leben. Die Jahre hatten zumindest den Schmerz in weite Ferne gerückt.
Über Donato, den Lichtläufer der Felsenburg, hatten sie und Ostvel ihm ihr Mitgefühl über Sorins Tod mitgeteilt. Alasen war mit Sorin im Schloss ihres Vaters in Neu Raetia aufgewachsen, wo er der Knappe von Prinz Volog gewesen war. Sie trauerte, als hätte sie einen Bruder verloren. Aber falls Andry auf eine persönlichere Botschaft gehofft hatte, so hatte er sich selbst dies nicht eingestanden. Welchen Zweck hätte das auch gehabt?
»Ist es das? Sind wir gleich da?«
Oclels Stimme riss Andry aus seinen Gedanken, und er blickte zu der zerklüfteten Hügelkuppe, auf die Oclels Finger deutete. »Das ist der Turm der ewigen Flamme«, erklärte er knapp, und die Veränderung in seiner Stimme nach der aufgeregten Ehrfurcht seiner letzten Worte ließ seine Kameraden erstarren.
Das Feuer, das im Turm der ewigen Flamme brannte, war bei Tageslicht nicht zu sehen, aber im Dunkeln wurde es zu einem Zeichen, das weit in die Wüste hinaus zu sehen war. Es hatte seit beinahe dreißig Jahren gebrannt, seit sein Großvater Zehava gestorben war, nachdem ihn ein Drache verletzt hatte. Wenn Rohan starb, würde sein Feuer ebenso gelöscht werden wie Zehavas damals. Der riesige, runde Raum würde dann ebenso sauber geschrubbt werden. Das war Sioneds Aufgabe, wenn sie Rohan überlebte. Und dann wurde Pol ein neues Feuer entzünden, sein eigenes. Die Flamme würde aus dem Feuer sein, das die Lichtläufer beschwören würden, um Rohans Leichnam zu verbrennen. Danach würde Pol über die Prinzenmark und auch über die Wüste als Hoheprinz herrschen. Es hätte Andry große Befriedigung bringen sollen, dass der Mann, der zum mächtigsten Prinzen des Kontinents
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