Sternenlaeufer
viele gäbe, die sich wieder einen Prinzen von Roelstras Blut in der Felsenburg wünschten. Chiana lachte auf, als sie sich an Mirris’ Erklärung erinnerte.
»Ihre Loyalität gilt jenen, die sie fünf Generationen hindurch regiert haben. Natürlich werden sie sich um das Banner Eurer Hoheit drängen – der edelsten unter den Töchtern des verstorbenen Hoheprinzen. Und es wird mich überhaupt nicht überraschen, wenn sich auf dem Weg von Drachenruh zur Felsenburg noch Hunderte den Armeen Eurer Hoheit anschließen.«
Die Vorstellung war berauschend. Mirris selbst war keine unwichtige Entdeckung gewesen. Chiana drehte einen hohen Stuhl vor ihrem Lieblingsspiegel herum und setzte sich rittlings darauf, als wäre er ihr schwarzes Pferd. Sonnenlicht glitzerte auf dem Gold und den Karneolen auf ihrer Rüstung und auf ihrem Helm. Als sie ihren eingebildeten Armeen graziös zunickte, schien der Hirsch auf ihrer Stirn auf dem Sprung zu sein, Berge zu erklimmen.
»Mama! Mama!«
Wütend sprang sie von ihrem Stuhl hoch, als die Zimmertür aufflog. Wer hatte Rinhoel erlaubt hierherzukommen? Aber wann hatte er je auf Erlaubnis gewartet, wenn er irgendetwas vorhatte? Ihre Wut verrauchte, und sie schwelgte in der Schönheit ihres Kindes. Nicht einmal Ianthes Söhne konnten ihrem Großvater so ähnlich sein. Rinhoel war groß für seine noch nicht einmal sieben Winter, schlaksig, aber kräftig. Sein Haar war nachtschwarz und seine Augen von einem klaren Grün, ohne einen Hauch von Haselnuss; seine Verwandtschaft mit Roelstra war nach seinem Äußeren genauso wie jedes seiner Worte. Sie zog ihn in die Arme, und er streckte die Hand nach dem Hirsch an ihrem Helm aus.
»Nein, du Gieriger, ruiniere nur nicht Mamas Rüstung!« Hastig setzte sie ihn ab und schloss mit einem Fußtritt die Tür. »Bist du deinen Knappen und Erziehern wieder einmal entkommen?«
»Sie wollten, dass ich langweilige Dinge lese«, informierte er sie. »Ich muss überhaupt nicht lesen, Mama. Ich hasse das. Ich bin ein Prinz, und die Leute werden mir vorlesen, wenn ich es ihnen befehle!«
»Stimmt«, gab sie zu und nahm den Helm ab, um ihr Haar über den Rücken fallen zu lassen. »Aber häufig gibt es Nachrichten, die nur du kennen solltest und niemand sonst. Deshalb musst du lernen, gut und schnell zu lesen, mein Einziger. Du möchtest doch nicht davon abhängig sein, dass jemand anders dir etwas vorliest, was ein Geheimnis bleiben soll.« Sie hatte plötzlich eine Idee, und da ihr die Erziehung ihres Sohnes sehr am Herzen lag, handelte sie sofort. Sie drehte den Stuhl wieder herum und fragte: »Rinhoel, soll ich dir ein Geheimnis erzählen?«
»Ja! Sofort!«
Er ergriff die Hand, die sie ihm hinhielt und ließ es über sich ergehen, dass sie ihn auf ihren Schoß hob. Sie betrachtete ihr Bild im Spiegel. »Mama wird morgen für eine Weile fortziehen.«
»Wohin?«, wollte er wissen. »In den Krieg? Bist du deshalb angezogen wie ein Soldat? Ich will mit!«
»Das geht jetzt noch nicht, Liebling. Aber sehr bald. Während ich fort bin, werde ich dir jeden Tag einen Brief schicken und dir alles erzählen, was passiert ist. Du möchtest doch nicht, dass irgendjemand anders die liest, oder?«
»Sind sie geheim?«
»Natürlich. Für alle, außer für uns. Zwischen einer Prinzessin und ihrem Prinzen-Sohn gibt es keine Geheimnisse.« Es war erstaunlich, welch großes Vergnügen diese Titel ihr immer noch machten.
»Aber du wolltest mir doch nicht sagen, dass du fortziehen wirst.«
»Ich hätte es heute Abend getan, wenn du nicht jetzt schon so unerzogen hier hereingeplatzt wärest.« Sie drückte ihn an sich. »Sieh mal in den Spiegel, Rinhoel. Kannst du dich in derselben Rüstung sehen? Wie du auf einem schönen, großen Pferd in die Felsenburg einreitest?«
»Ich will die Felsenburg nicht. Ich will Drachenruh.«
Chiana sagte sich, dass es ganz natürlich war, dass ein kleiner Junge einen Ort begehrte, den er schon gesehen hatte, und nicht einen anderen, den er nicht kannte. Als offizielle Entschuldigung dafür, dass sie ihn zum letzten Rialla mitgenommen hatte, hatte sie erklärt, sie könne es nicht ertragen, von ihm getrennt zu sein. Das war schön und gut. Aber es hatte noch ein Geheimnis zwischen ihnen gegeben, das zu bewahren er ernsthaft geschworen hatte, wenngleich er erst vier Jahre alt gewesen war. Sie hatte ihm die Palasthallen und Gärten gezeigt und dabei gewispert, dass Drachenruh mit dem Rest der Prinzenmark eines Tages ihm gehören
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