Sternenlaeufer
abgesehen von dieser einen wichtigen Gabe – identisch war mit ihm selbst.
Wie Sorin es gespürt hatte, blieb für sie beide ein Rätsel. Sie hatten gehört, dass Maarken, nachdem sein eigener Zwillingsbruder der Seuche zum Opfer gefallen war, verloren und gequält durch Radzyn gezogen war, immer auf der Suche nach dem zweiten Selbst, das allzeit dort gewesen und nun fort war. Aber was sie teilten, war mehr – vielleicht, weil sie älter waren oder weil Andry ein Lichtläufer von noch mehr Macht war als Maarken.
Seit damals träumte Andry gelegentlich von dem, was die Göttin ihm gezeigt hatte. Einmal geschah es, während Sorin wieder zu einem kurzen Besuch in der Schule der Göttin war, ehe er nach Kierst segelte, um die Herstellung der Fliesen für Feruche zu überwachen. Andry war aus dem Traum gerüttelt worden wie damals aus der Vision, wieder durch die Hände seines Bruders, die ihn verzweifelt bei den Schultern hielten, und durch die Stimme seines Bruders, die laut seinen Namen rief.
»Was ist das für ein Gefühl?«, hatte Andry gefragt, als sie in Decken gehüllt neben dem Fenster auf die Morgendämmerung warteten und warmen Wein schlürften.
»Wie damals, als wir noch klein waren und einer von uns einen bösen Traum hatte.« Sorin zog fragend die Brauen hoch. »Du hast mir damals nie Einzelheiten erzählt …«
»Du auch nicht. Wir waren ein stolzes kleines Gespann, was? Wir konnten nie zugeben, dass wir Angst gehabt hatten.« Andry lächelte.
»… und ich nehme an, du wirst auch jetzt nicht darüber reden, oder?«, schloss Sorin, als wäre er nicht unterbrochen worden.
»Nein. Tut mir leid. Schlimm genug, dass ich es sehe. Wenn ich es dir erzählen würde, würdest du vielleicht anfangen, dieselben Sachen zu träumen. Und dann springt es vielleicht auf dem ganzen Weg nach Feruche und zurück zwischen uns hin und her, und keiner von uns beiden würde je genug Schlaf bekommen.«
Andrade hatte immer betont, dass die Göttin zeigte, was möglicherweise eintreten würde. »Nichts ist in Stein gemeißelt. Und selbst wenn, Steine können brechen.« Er fragte sich manchmal, was sie von der Zukunft gesehen hatte. Hatte die Göttin ihr befohlen, ihre Schwester mit Zehava zu verheiraten? Oder hatte sie das getan, um eine Zukunft zu ändern, die ihr nicht gefiel? Hatte sie Pol jemals gesehen? Oder mich? War ihr klar, welche Arbeit vor mir liegt? Hat sie mich deshalb zu ihrem Nachfolger erwählt? Oder hat sie jemand anderen gesehen und mich bewusst statt seiner erwählt?
Das war nicht gerade das, was er jetzt denken sollte. Was nun die anderen denken würden – es kümmerte ihn nur, was Maarken und Hollis dachten. Sie mussten ihn verstehen. Die Lichtläufer würden möglicherweise erschreckt, entsetzt, schockiert oder von Ehrfurcht ergriffen sein. Es war nicht wichtig. Aber sein Bruder musste ihn verstehen und es Rohan, Sioned und Pol erklären.
Aber er gestand sich ein, dass es ihm auch nicht sonderlich wichtig war, was sie wirklich dachten. Wenn Rohan ihn für machthungrig hielt und Sioned sich dadurch, wie er seine Macht verwendete, beleidigt fühlte oder Pol bedroht sah – schade. Die können davon halten, was sie wollen, solange sie mich nicht hindern. Ich kann verhindern, dass die Vision wahr wird. Dies ist meine Aufgabe, deswegen wurde ich durch die Göttin gewarnt. Nur – bitte, Sanfte Herrin, lasst Maarken es verstehen.
Er schrak heftig zusammen, als Nialdan sich räusperte. Der große Mann zuckte entschuldigend die Schultern. »Tut mir leid, Herr.«
Andry lächelte dünn. »Löse deine Wurzeln vom Boden, und sieh nach, was Torien aufhält.«
»Jawohl, Herr.«
Als Nialdan fort war, konnte Andry seiner Nervosität nachgeben und auf und ab gehen. Er war daran gewöhnt, den Raum zu umkreisen; das Torhaus war lang und schmal, und das ungewohnte Muster brachte ihn nur noch mehr durcheinander. Er blieb am Tisch wieder stehen und schenkte Wein in die Kelche, um etwas zu tun zu haben. Das Dranath stäubte von seinen Handflächen herab, ein feiner Puder, der augenblicklich in dem grüngoldenen Wein verschwand.
»Herr?« Nialdan kam wieder herein und ließ die Tür zur Treppe hinter sich offen. »Torien sagt, sie sind fast fertig. Er wird alsbald heraufkommen. Oclel hat sich doppelt vergewissert, was die Schwerter und Pfeile angeht.«
Oclel war ein guter Freund von Nialdan und der einzige Mann in der Schule der Göttin, der groß genug war, um beim Schwertkampf einen anständigen Partner für ihn
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