Sternenlaeufer
Mädchen könnte dasselbe denken.
Ihre Geschichte war ganz einfach. Sie war auf Gut Gracine geboren, war die Tochter der ersten von Miyons zahlreichen Maitressen und hatte die ersten fünfzehn Winter ihres Lebens dort verbracht. Ihre Mutter hatte sie verachtet, denn die hatte mit einem Sohn gerechnet. Miyon hatte sie beide ignoriert. Nach Lady Adilias Tod vor zwei Jahren war Meiglan nach Castle Pine gebracht worden, wo sie eine persönliche Dienerin, hübsche Kleider und eine strenge Ausbildung erhielt, was nun mal Miyons Vorstellung von der perfekten Tochter eines Prinzen entsprach.
»Nicht gerade ein angenehmer Unterricht, nach allem, was ich aus ihrer Dienerin herausbekommen konnte«, hatte Rialt Sionell erzählt. »Was immer sie tut und wie sehr sie sich auch bemüht, Miyon findet immer einen Fehler.«
Als ob es in Tiglath noch irgendjemanden gegeben hätte, der das nicht inzwischen erraten hatte. Trotzdem gehörte Meiglan bei diesem kleinen Besuch in Tiglath zum Gefolge ihres Vaters. Miyon ignorierte sie zwar nicht mehr, warum er aber beschlossen hatte, sie mitzubringen, konnte sich Sionell nicht vorstellen.
Meiglan bestand nur aus Widersprüchen. Mit nahezu achtzehn Wintern hatte sie noch immer das unschuldige Gesicht eines kleinen Mädchens, aber die perfekten Rundungen ihres Körpers waren die einer erwachsenen Frau. Sie war blond, mit zarter, heller Haut und Fluten hellen Haares, das sich über ihren Rücken ergoss wie eine goldene Wolke. Ihre Augen dagegen hatten das tiefe Braun gefallener Blätter. Ihr dunkler Blick verriet die kindliche Erkenntnis, dass die Stimmungen und Launen anderer sie nie vergessen ließen, dass sie die Macht hatten und sie verletzen konnten.
Im Augenblick saß sie neben Sionell auf einem grasbewachsenen Hügel, der im letzten Frühjahr noch eine Sanddüne gewesen war, und auch ihre zarten Hände wanden Kränze aus den Blumen, die die fünfjährigen Zwillinge von Maarken gebracht hatten. Die Kinder rannten umher, Rohannon ein wenig ungeschickt auf seinen langen Beinen, die er nicht sicher beherrschte, und ließen die Blumen, die sie gepflückt hatten, den Damen in den Schoß fallen. Sionell hatte den Vorschlag gemacht, ein wenig hinauszugehen, um Meiglan einmal aus ihrem Zimmer zu locken – das Mädchen hatte sich dort die ganze Zeit über versteckt, die ganzen sechs Tage lang, die sie in Tiglath gewesen war, und war nur zum Abendessen herausgekommen. Kein Wunder. Miyon ignorierte sie zwar nicht mehr, aber seine Aufmerksamkeit war kein Segen.
Sionell schrak zusammen, als Chayla einen Arm voll Goldbart auf sie herabregnen ließ. Sie griff nach dem Kind und kitzelte es, bis sie beide außer Atem und halb den Hügel hinabgerollt waren. Als sie wieder hinaufstiegen und unterwegs die verstreuten Blumen einsammelten, sah sie, dass Meiglan sie mit einem Blick anschaute, als wolle sie gleich zu weinen anfangen.
Die arme Kleine, dachte Sionell. Ihr Herz tat ihr weh vor Mitleid mit diesem Kind, das allein aufgewachsen war. Zuerst mit einer Mutter, die es verachtete, und nun gefangen in Castle Pine, mit einem Vater, der seine Verachtung in ironischen Koseworten äußerte – »kostbarstes Juwel«, »süßester Schatz», »vollkommene rote Rose«. Wenn er Meiglan nur mitgebracht hatte, um den Zorn seiner Gastgeberin auf sich zu lenken, dann hatte er sein Ziel erreicht.
Dahinter musste jedoch noch etwas anderes stecken. Sionell überlegte. Das Mädchen war nicht dumm. Hinter Meiglans feigem Schweigen steckte genug Intelligenz. Vielleicht spielte sie bei den Verhandlungen eine Rolle, die so durchtrieben erdacht war, dass nur Rohans gerissener Verstand sie erfassen würde.
Miyon jedoch schien darauf erpicht, den Eindruck zu erwecken, seine Tochter sei dumm. Erst gestern Abend hatte er erklärt: »Ihre Mutter hatte nicht genug Hirn, aus einem Sandsturm herauszukommen – aber Meiglan hat überhaupt kein Hirn im Kopf.« Und mit einem Lächeln, das Sionell reizte, ihm ins Gesicht zu schlagen, hatte er noch hinzugefügt: »Aber eine schöne Frau braucht auch kein Hirn, nicht wahr, meine kostbarste Blume?«
Meiglan war nicht dumm. Und niemand konnte so unschuldig sein, wie sie zu sein schien. Sie musste eine Menge nützliche Dinge über ihren Vater und seinen Hof wissen. Sionell beschloss, das Grübeln erst einmal aufzugeben und sie über die anderen illegitimen Kinder ihres Vaters auszufragen, von denen es den Gerüchten zufolge mindestens drei geben musste. Während sie die Blumen
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