Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
all den Jahren war ihr kein anderes Wesen begegnet, das ebenso wie sie die Antworten auf diese elementaren Fragen zur eigenen Identität nicht kannte. Wie alles verschwammen auch diese Erinnerungen zu einem Wirrwarr aus Sinneseindrücken, Bildern und Gefühlen, die sie nicht einordnen konnte.
Behutsam tastete sie nach dem Buch, das sie in ihrer Manteltasche trug. Vor einem Jahrzehnt hatte sie begonnen aufzuschreiben, was sie dachte, tat und empfand. Was für einen Menschen ein normales Tagebuch gewesen wäre, war für sie ein wichtiges Instrument, um eines Tages die Lücken in ihrem Leben zu füllen. Doch statt ihr zu helfen, brachte es ihr ein neues Ausmaß an Verzweiflung. Wenn sie ihre Aufzeichnungen las, hatte sie bei allem, das länger als zwei Jahre zurücklag, den Eindruck, dass es sich um die Gedanken einer fremden Person handelte und nicht um ihre.
Niemand vermochte ihr zu sagen, woran es lag oder was für ein Geschöpf sie war. Zumindest wollte man es nicht. Alle ihre Fragen prallten an einer Mauer des Schweigens ab oder wurden schmerzhaft bestraft, falls sie als lästig empfunden wurden.
Sie beobachtete, wie Raphael – seinen Namen herauszufinden war ein Leichtes gewesen – mit diesem Menschenmädchen die Straße entlangging. Verächtlich schürzte sie die Lippen. Wie konnte er sich nur an ein so schwaches Wesen binden? Er, eine Sternenseele. Kein Wunder, dass sie ihnen so unterlegen waren. Sie hatte bereits zwei weitere entdeckt, aber sie zu töten war nicht ihre Aufgabe. Später vielleicht. Sie hoffte darauf, wünschte sich, das Chaos in ihrem Kopf für einige Augenblicke im Blutrausch zu vergessen. Die einzigen Momente, in denen sie die quälenden Fragen losließen. Doch ihre Herrin hatte andere Pläne, und sie musste ihr gehorchen. Sie war diejenige, die den Schlüssel zu ihrer Vergangenheit trug.
Ihr Auftrag lautete herauszufinden, warum sie hier lebten. Sie wusste, dass ihre Herrin eine Ahnung hatte, es aber nicht für nötig befand, ihr den Grund zu nennen. Ebenso wenig wie man einem Hund erläuterte, warum er den verlorenen Schlüssel suchen sollte.
Er legte einen Arm um ihre Schulter, spielte liebevoll mit einer Strähne des Mädchens. Dann neigte er sich vor, küsste ihren Nacken und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das sie zum Erröten und Kichern brachte. Ein schmerzhaftes Sehnen durchflutete sie. Fast wünschte sie sich, sie wäre an ihrer Stelle. Glaubte gar, sie sollte es sein und nicht das Menschenmädchen, dem er sein Herz schenkte. Erschrocken zuckte sie zusammen. Woher kam dieser Gedanke? Liebe? Eine Schwäche, die sie niemals zulassen würde. Aber sie hatte nun seinen wunden Punkt gefunden, und sie würde ihn ohne Zögern ausnutzen. Er bot ihr die Möglichkeit, ihn zu verletzen und von den anderen zu trennen. Als Gruppe waren sie durchaus eine Gefahr, aber nicht, wenn es ihr gelang, sie zu entzweien. Dann würde sie sie einzeln töten, sobald ihre Herrin es gestattete. Und das würde sie. Schon bald.
Insgeheim musste sie sich jedoch eingestehen, dass es nicht nur die Vorstellung, das Mädchen zu beseitigen, war, die sie in Vorfreude erzittern ließ. Es war ein Gefühl, für das sie keinen Namen hatte. Etwas, das sie nie zuvor verspürt hatte. Zumindest nicht, soweit sie sich erinnern konnte. Es erweckte in ihr den Wunsch, sie aus seinen Armen zu reißen, sie zu vernichten und jeden Gedanken an sie auszulöschen. Etwas Unbegreifliches zog sie magisch zu ihm hin, verlangte ihn ganz für sich.
Woher kam dieser Drang? Er war der Feind, der ihr Blut zum Kochen vor Hass bringen sollte. Sie war sich nicht sicher, ob sie froh darüber war, etwas Neues an sich entdeckt zu haben. Er roch zu sehr nach Schwäche, und sie durfte nicht wagen, es ihrer Herrin zu offenbaren. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie ihren letzten Atemzug tun würde, sollte sie in ihren Augen nicht mehr ein nützliches Werkzeug sein, und sie bewunderte sie für diese Stärke.
Sie umklammerte das Klappmesser, das sie verborgen mit sich führte. Es war an der Zeit, sich für den Krieg zu rüsten. Die Vorfreude auf das Blut, das fließen würde, schwemmte alle Zweifel fort.
12
† M it vor Freude zitternden Fingern holte sie den Zettel aus seinem Versteck im Mauerwerk. Trotz des überhasteten Abschieds in der letzten Nacht schwebte sie immer noch auf Wolken reinster Glückseligkeit und konnte es kaum erwarten, die Nachricht zu lesen, die ihr den Tag versüßen und über die Zeit hinweghelfen sollte, die er
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