Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
im Bann des Lichtes nicht mit ihr verbringen konnte.
Sie entfaltete das Papier und starrte die Worte einen Moment verwirrt an, bis ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief.
Komm heute Abend an die Ruine.
Ich liebe dich.
Irgendetwas musste passiert sein. Sie waren nicht verabredet, außerdem nahm Raphael ihr Schlafbedürfnis viel ernster als sie. Wenn er sie also zu der Hütte im Wald rief und sie nicht einmal selbst abholte, musste es etwas Schlimmes sein. Hing es womöglich mit dem zusammen, was er letzte Nacht gesehen hatte? Worüber er nicht mit ihr sprechen wollte? Nachdenklich ging sie zum Unterricht, der an ihr ebenso wie das Gequatsche ihrer Freundinnen vorbeizog, bis es Zeit für ihre erste Stunde in der Ausbildung zur Sternenhüterin war.
Wie so oft zuvor öffnete Lilly die Tür zum Büro der Rektorin, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sie dabei von niemandem beobachtet wurde. Sie musste vermeiden, dass Gerüchte über ihre ständigen Besuche bei Madame Favelkap aufkamen. Ihre Mutter war schon aufgebracht genug, da mussten ihr nicht noch Vermutungen über einen bevorstehenden Schulverweis zu Ohren kommen.
Die Rektorin erwartete sie bereits und starrte sie mit durchdringendem Blick an. Hatte Lilly das letzte Mal den Eindruck gehabt, dass sich das Verhältnis zwischen ihnen entspannt hatte, so wurde sie nun eines Besseren belehrt. Die Frau erschien strenger denn je und bedeutete ihr ohne jegliche Begrüßung mit einer knappen Handbewegung, sich zu setzen. »Bevor wir beginnen, müssen Sie einen Eid ablegen.«
»Ernsthaft?« In Lillys Augen wirkten Eide völlig veraltet, ein Relikt aus längst vergangenen Tagen, über das sie selbst bei den billigen Gerichtsshows immer den Kopf schüttelte, wenn jemand vereidigt wurde.
»Natürlich. Erwarten Sie, dass ich Ihnen einfach so unsere Geheimnisse anvertraue?«
»Was sagt Ihnen, dass ich meinen Eid nicht brechen werde?«
»Sind Sie so ein Mensch? Eine Person, die leichtfertig ein Versprechen oder gar einen Eid ignorieren würde?« Ihr stechender Blick schien Lilly zu durchbohren.
»Nein«, sie zögerte. »Aber das können Sie doch nicht wissen.«
Madame Favelkap hob eine Braue. »Nicht mit Sicherheit, aber wenn ich Ihnen nicht vertrauen würde, hätte ich niemals zugestimmt, Sie auszubilden. Eher hätte ich Sie getötet.«
Lilly schluckte. Wenn so das Vertrauen der Rektorin aussah, wollte sie nicht wissen, wie sie ihre Feinde behandelte. Aber vermutlich war das der Sinn hinter ihrem Verhalten. Nur Härte, keine Schwachstellen zeigen.
»Nun zum Eid. Es geht darum, dass Sie mir versichern, alles, was Sie im Unterricht von mir erfahren, für sich zu behalten und nicht an Unbeteiligte weiterzugeben – auch nicht an die Sternenseelen.«
Zuerst dachte Lilly, die Sternenhüterin hätte sich nur versprochen, dann erfasste sie jedoch, dass sie es ernst meinte. »Warum soll ich etwas vor ihnen verbergen? Ich denke, unsere Aufgabe ist es, sie zu schützen.«
Da lächelte Madame Favelkap zum ersten Mal, doch es war kein gutes Lächeln. »Das stimmt, aber auch die Menschheit. Es gibt Dinge, die zu wissen mehr Schaden anrichten können als Gutes.«
Lilly runzelte die Stirn. Das gefiel ihr nicht. Sie wollte keine Geheimnisse vor Raphael haben.
Die Rektorin erkannte ihre Zweifel und setzte zu einer Erläuterung an. »Glauben Sie, dass es ihr Leben verbessert, wenn sie wüssten, dass auf jede vernichtete Sternenbestie vier tote Sternenseelen kommen? Sie ahnen es, aber wir haben die Fakten. Welche Auswirkung hätte es auf viele von ihnen? Würden sie sich noch immer so bereitwillig in den Kampf stürzen, wenn sie um das wahre Ausmaß der Gefahr wüssten? Oder fehlte ihnen im entscheidenden Moment der Mut? Würden sie eventuell einen Augenblick zu lange zögern und dadurch ihren eigenen Tod herbeiführen? Die Menschen brauchen sie.«
»Dann opfern wir sie einfach?«
»Im Grunde, ja.«
»Aber warum sagen wir den Menschen nicht, was los ist?«
»Vertrauen Sie ihnen genug, um das zu tun? Was, wenn sie die Sternenseelen und Bestien in Labors stecken? Wollen Sie das? Könnte dabei etwas Gutes herauskommen?«
Lilly wurde es ganz kalt bei der Vorstellung, Raphael könnte wie ein Tier in einem Käfig gehalten werden, Opfer von grausamen Experimenten sein.
»Es könnte noch schlimmer kommen«, fuhr die Rektorin fort. »Wer regiert große Teile der Welt? Die guten und mitfühlenden Seelen? Nein, es sind zu oft rücksichtslose Konzernchefs und Politiker, die
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