Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
beschützen, sie töten.«
Lilly musterte die anderen. Hatten sie ebenfalls sein kurzes Zögern bemerkt, das Zittern seiner Stimme, als sei er selbst seiner Worte nicht sicher? Es bestürzte sie, den Streit unter den Sternenseelen zu sehen. Sie waren in zwei Lager gespalten. Felias bezog ganz klar Stellung zu Shiori, stellte sich dicht neben sie, während Anni bei deren kurzer Rede den Kopf geschüttelt hatte. Nur aus Ras wurde sie nicht schlau. Er beobachtete von seinem Platz mit undurchdringlicher Miene das Schauspiel, das sich ihm da bot.
»Wie kann man jemanden besser beschützen, als wenn man alle seine Feinde tötet?«, fragte Felias.
»Töten ist niemals eine Lösung«, widersprach Anni ihm. Unbewusst strich sie über die eintätowierte Nummer an ihrem Handgelenk – ein Mal, das sie für immer an die schreckliche Zeit im KZ erinnern würde, wo ihre geistig verwirrte Mutter vergast wurde und sie selbst beim Todesmarsch kurz vor der Befreiung starb. Sie war bei ihrem Tod erst zwölf Jahre alt gewesen, aber das Leid hatte sie stark gezeichnet, sodass sie sich mit etwas Schminke als Oberstufenschülerin ausgeben konnte. »Das Sternenlied lehrte mich zu verzeihen. Im Moment meines Todes war ich voller Verzweiflung. Das Einzige, das mich so lange hatte überleben lassen, war der Wunsch nach Rache, und dann schien mir diese Möglichkeit genommen worden zu sein. Doch schließlich hörte ich zum ersten Mal den Gesang der Sterne, der den gesamten Kosmos erfüllt, und jeglicher Schmerz wurde davongespült. Es ist reinste Liebe, und wann immer ich die Augen schließe, kann ich es hören. Das größte Geschenk der Sterne war mein Frieden mit der Welt. Hass führt zu nichts.«
Lilly bewunderte sie für ihre Stärke, die es ihr ermöglichte, trotz ihres furchtbaren Schicksals die Ausgeglichenste von ihnen zu sein.
»Wenn ich eine Möglichkeit sähe, alle Sternenbestien zu vernichten, würde ich sie ohne Zögern ergreifen.« Ras’ tiefe Stimme füllte den ganzen Raum aus, obwohl er leise sprach. »Solange dem nicht so ist, sind wir nicht als Krieger hier, sondern um sie zu schützen. Wenn wir alle in den Kampf ziehen und unterliegen, wer bleibt dann noch?«
Von wem sprach er da? War das der Auftrag, der die Sternenseelen an diesen Ort band? Das, worüber ihr Madame Favelkap nichts erzählen wollte? Lilly kaute auf ihrer Unterlippe. Sollte sie fragen? Aber die Missachtung durch die Jäger hatte ihr deutlich gezeigt, wie wenig sie in den Augen der Sternenseelen wert war. Shiori ließ ja auch keine Gelegenheit ungenützt verstreichen, ohne ihr zu sagen, wie wenig sie von ihr hielt. Erst als sich ihr die Köpfe zuwandten, bemerkte sie, dass sie die Frage laut gestellt hatte. Mist. Ras schien erst jetzt ihre Anwesenheit bewusst wahrzunehmen.
»Tut mir leid, Lilly. Das darf ich dir nicht sagen. Diese Entscheidung liegt bei Madame Favelkap.«
Na toll, da konnte sie ewig warten. Sie warf einen verstohlenen Blick zu Raphael, aber er schüttelte unmerklich den Kopf.
»Es ist schon spät. Raphael, bringst du sie bitte nach Hause?«
Das hatte sie nun davon, dass sie den Mund nicht gehalten hatte. Sie wurde nach draußen befördert, dabei würde es sie brennend interessieren, wie es weiterging. »Vertraut ihr mir immer noch so wenig?«, hörte sie sich fragen und wunderte sich dabei, was heute mit ihr los war. Das zweite Mal, dass sie ohne bewusste Absicht drauflosredete.
»So ist es nicht.« Anni legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Doch je weniger von einem Geheimnis wissen, desto sicherer ist es. Zudem ist es zu deinem eigenen Schutz. Sollte Lucretia den Verdacht haben, dass du etwas Wichtiges weißt, wird sie alles daransetzen, es aus dir herauszupressen. Alles.«
Lilly schluckte. Sie hatte für einige Augenblicke eine geistige Verbindung zu Ansgar gehabt und so all die Grausamkeit gesehen, zu der die Sternenbestien fähig waren. Sie hegte keinen Zweifel, dass sie dem nicht standhalten konnte.
»Ich habe schon einmal helfen können.« So leicht wollte sie nicht aufgeben. Solange man mit ihr darüber diskutierte, gab es vielleicht noch eine Chance, mehr herauszufinden.
»Hilfe nennst du das?«, schnaubte Shiori. »Du hast uns alle in Gefahr gebracht.«
»Du stehst noch recht lebendig vor mir«, fauchte Lilly zurück. Die ständigen Anfeindungen der Asiatin gingen ihr gewaltig auf die Nerven.
»Wie auch immer. Es liegt in den Händen der Sternenhüterin. Außerdem haben wir kein Recht, uns in deine
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