Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
zur Sonne, dem Gestirn, das ihnen das Leben geschenkt hatte. Sie weinte vor Glück und Ehrfurcht, etwas Derartiges erleben zu dürfen, und fühlte sich seltsam geborgen bei dem Gedanken, dass sie nur ein Teil eines viel größeren Kreislaufs war, in den sie ebenfalls eingebunden war. Auch wenn Raphael Zweifel am Schicksal der Sternenseelen nach ihrem Tod hatte, glaubte Lilly nicht, dass sie verloren gehen könnten. Es gab einen Platz für sie alle.
»Wunderschön«, flüsterte sie ehrfurchtsvoll. Dann wurde ihr bewusst, was das bedeutete: Sie war eine Sternenseele.
In dem Moment der Erkenntnis hörte sie es zum ersten Mal: das Sternenlied. Nichts anderes konnte es sein. Und sie verstand, warum Raphael es nie in Worte hatte fassen können. Sie erkannte zwar einzelne Töne, die sie wohlig umhüllten wie die Laute des Wiegenlieds, das ihre Mutter früher für sie gesungen hatte, so kuschelig warm wie eine Decke im Winter. Aber es war viel mehr als das. Es war, als wäre sie selbst das Instrument und ihre Gefühle die Töne. Dabei überwältigte sie ihre Vielfalt, die sich zu einem einzigen Klangmuster der Emotionen verwob. Am hellsten und klarsten jedoch hörte sie eine einzige Melodie, von der sie instinktiv wusste, dass sie zu ihrem Stern gehörte. Sie sandte ihren Geist ihm entgegen, spürte die reine Liebe, die von ihm ausging. Und dann erblickte sie ihn: Gleißend hell erstrahlte sein Licht gegen die Finsternis und Einsamkeit des Alls, umhüllt von einer silbernen Korona, die die Planeten, die ihn umgaben, einhüllte. Doch er war nicht allein, während sich ihr Blickfeld vergrößerte, sah sie funkelnde Strahlen von ihm ausgehen, die unzähligen leuchtenden Punkten entgegenstrebten. So entstand ein glitzerndes, feines Netz aus Licht und Lauten, das alles miteinander verband.
»Wir sind nicht allein«, flüsterte sie.
Wie oft hatten sich die Menschen gefragt, ob sie die einzigen Lebewesen im Kosmos waren, Gottes Ebenbilder, wenn man der christlichen Kirche Glauben schenkte. Nun hatte sie die Antwort. Aber es war viel mehr als das. Sie erinnerte sich an einen Urlaub an der Nordsee, den sie vor Jahren mit ihrer Mutter verbracht hatte. Sie waren mit einem kleinen Schiff auf das Meer hinausgefahren, immer weiter, bis das Festland im Dunst verschwand und nur das gleichmäßige Schwappen der Wellen gegen den Bug die Stille durchbrach. Sogar die Möwen hatten sich mit einem letzten gekreischten Gruß von ihnen verabschiedet und waren in flachere Gewässer zurückgekehrt. In diesem Augenblick war Lilly sich bewusst geworden, wie klein und unbedeutend sie doch war. Ein einzelner Mensch. Was war sie schon im Vergleich zu den gewaltigen Tiefen des Meeres, den Kräften, die ein Sturm ihr entgegenwerfen konnte, oder der Freiheit, die die Seevögel erlebten? Und jetzt verspürte sie es erneut, nur dass sie dieses Mal die Menschheit mit einbezog. Sie nahmen sich so wichtig, dabei waren sie nicht einmal ein Funken in der Gesamtheit der Schöpfung.
Tränen liefen ihr über das Gesicht. Wenn die Menschen doch nur wüssten …
Während sie die Eindrücke gierig aufsog, bemerkte sie am Rand ihrer Wahrnehmung, dass da etwas lauerte. Etwas Düsteres, Verschlagenes, von Neid Zerfressenes. Es versuchte, das Funkeln und Glitzern in Schwärze zu ertränken, begehrte alles zu vernichten, was es nicht haben konnte. Der Ursprung der Sternenbestien, ein Spiegelbild des Kampfes, den sie auf der Erde ausfochten.
In diesem Moment zerriss ein markerschütternder Schrei die Stille, und Lilly bemühte sich, ihre Konzentration wieder auf die Realität zu lenken. Da war Calista, die sich die Seele aus dem Leib schrie.
27
† D er Wind rupfte an dem Wipfel der Tanne, auf deren obersten Ast sie stand, ließ ihn heftig hin und her schwanken. Sie hatte sich den höchsten Baum der Umgebung ausgesucht, um einen guten Überblick zu haben, auch wenn ihre Sicht durch die Baumkronen eingeschränkt war, bekam sie doch genug mit. Oder zu viel. Die neuen Erkenntnisse brachten sie zum Erbeben. Frustriert stieß sie die Luft zwischen den Zähnen hervor. Das war eine unerwartete Wendung. Wie sollte sie der Herrin erklären, dass mit ihrer Hilfe eine neue Sternenseele geboren worden war? Am liebsten wäre sie nach unten gesprungen und hätte diesem kurzen Aufflackern frischen Lebens ein Ende gesetzt, bevor dieses Mädchen die Möglichkeit bekam, sich zu einer echten Gefahr zu entwickeln, aber sie wagte es nicht. Ihre Anweisungen waren unmissverständlich: Töte
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