Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
ihrer Wiedergeburt geendet? Ein frisches Leben ohne alten Ballast?
Er sah zu Lea und Torge hinüber, die eng umschlungen am Tisch saßen. Aus den verstohlenen Blicken, die sie sich heimlich zuwarfen, sprach bedingungslose Liebe. Selbst in Zeiten wie diesen konnte ihre Bindung nichts erschüttern.
Wie sollte er gegen so ein mächtiges Band ankommen? Fast hätte er gelacht. Da sorgte sich Lilly die ganze Zeit darum, dass Amadea wiedergeboren werden könnte, und dann war sie es, die brutal aus ihrer Beziehung gerissen wurde.
Ihre Augen trafen sich, als er sich zurücklehnte, und er erkannte in ihnen dasselbe Entsetzen, dieselben Fragen, die auch ihn heimsuchten. Er ballte seine Faust, als ihm bewusst wurde, wie viel schlimmer es ihr gehen musste. Sie war gerade gestorben und wieder auferstanden. Er erinnerte sich an seine eigene Verwirrung, als es ihm so ergangen war. Er wusste, dass sie sich nun fragte, was aus ihr werden sollte, ob sie schon bald ihre Mutter verlassen musste, wo sie leben sollte und dass sie den nahenden Tag fürchtete. Sie war für kurze Zeit von dem Splitter einer Sternenbestie besessen gewesen, die sie bei Nacht unter ihr Joch gezwungen hatte. Wie stark musste ihre Angst sein, dass ihr bei Tag Ähnliches widerfuhr? Wie gerne würde er sie in seine Arme nehmen und ihre Befürchtungen zerstreuen.
Normalerweise war es üblich, einer neugeborenen Sternenseele ein herzliches Willkommen zu bieten, sie langsam in ihr neues Leben einzuführen und den Schrecken ihres Todes vergessen zu lassen. Zu viele hatten sie früher verloren, als sie verstört vor ihrer Aufgabe geflohen waren und direkt in die Arme einer Bestie rannten.
Bei Lilly war es jedoch anders. Der Zauber der Unsterblichkeit verblasste angesichts des Schocks über ihren Zwillingsstern. Zu viel wusste sie bereits über die Sternenbestien, kannte die Gefahren und vor allem auch die aktuelle Bedrohung durch Lucretia.
Es brach ihm das Herz, Lilly so niedergeschlagen und verwirrt zu sehen. Er fand sie noch schöner als vor ihrer Verwandlung. Es mochte aussichtslos sein, aber er würde um sie kämpfen. Er war nicht bereit, sie einfach aufzugeben. Erst recht nicht, wenn der Mensch, der ihr nun zur Seite stehen sollte, selbst mit der Situation überfordert zu sein schien. Mikael war in der Zwischenzeit wortlos hereingekommen, saß still und starr auf seinem Stuhl und erweckte nicht den Eindruck, als würde er der Diskussion überhaupt folgen oder sich für Lilly interessieren. Das Mädchen, das er mehr als sein Leben liebte, das ihm geraubt worden war, und der Dieb achtete sie weniger als ein Fisch den Wurm, den er verschlang.
Raphael verstand diesen Jungen nicht. Er wusste, dass Anni die Frage quälte, warum ihr Zwillingsstern nicht geboren wurde, ob sie ihn womöglich verpasst hatte und er direkt nach seiner Wiedergeburt erneut gestorben war. Sie wagte es nicht, eine andere Beziehung einzugehen, da sie das Gefühl hatte, sonst ihren vorherbestimmten Partner zu betrügen. Ein einsames Leben für eine liebesbedürftige, sanfte Person wie Anni. Warum also freute sich Mikael nicht darüber, endlich seine Sternenseele gefunden zu haben? Er und Raphael kannten einander kaum, sodass es nicht an falscher Loyalität liegen konnte.
Er sah wieder zu Lilly, und sein Herz zog sich vor Angst zusammen. Erwartete Mikael von ihr, ebenfalls zur Jägerin zu werden? Seine zarte Lilly, die bereit gewesen war, alles zu opfern, nur damit ihr von einer Sternenbestie besessener Bruder nicht getötet wurde? Das Mädchen, dem es gelungen war, einer Bestie zu einer Seele zu verhelfen? Er konnte sich niemanden vorstellen, der weniger dazu geeignet war, zur erbarmungslosen Kriegerin zu werden. Nein, das würde er nicht zulassen. Er hatte sein Leben dem Schutz der Hilflosen gewidmet, deshalb lebte er hier und hütete eines der größten Geheimnisse der Sternenseelen. Er war der Richtige für sie und nicht dieser Junge, dessen Existenz nur aus Töten bestand.
»Beschreib uns die Sternenbestie, die dich ermordet hat«, forderte Fynn Lilly in diesem Moment auf.
Ihm war anzusehen, dass ihm die zusätzliche Komplikation, die ihre Wandlung mit sich brachte, nicht behagte. Raphael kannte diese alten Sternenseelen. Im Laufe der Jahrhunderte verloren sie jeglichen Bezug zu menschlichen Gefühlen, gaben sich ganz und gar dem Töten hin, nicht länger um den Erhalt ihres eigenen Lebens besorgt. In seinen dunklen Augen glomm bereits der Wahnsinn, der sie alle irgendwann einholte.
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