Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
Dieses Wesen kannte kein Mitleid.
Lilly sah ihn verwirrt an. Offenbar war sie ihren eigenen Gedanken nachgehangen.
»War es womöglich diese Lucretia? Antworte mir«, forderte Fynn kalt.
»Sie war klein, keine eins sechzig würde ich sagen, und schlank, vielleicht siebzehn Jahre. Dicke rotblonde Locken, leicht schräg stehende Augen.«
Bei der Beschreibung sank Raphael wie betäubt in seinen Stuhl zurück. Konnte das noch Zufall sein?
Fynn schüttelte den Kopf. »Das ist nicht Lucretia. Niemand würde sie für ein Mädchen halten. Sie gehört zu den ältesten Menschen, die jemals gewandelt wurden. Wenn du sie siehst, wirst du sie erkennen. Schmales, hageres Gesicht, braune Augen und einen spindeldürren Körper.«
»So jemand gibt es nicht an unserer Schule.«
»Denk an Schönheitsoperationen, Masken«, sagte Lea. »Ich wollte früher Maskenbildnerin werden, und wenn sie genug Zeit zum Üben hatte, kann sie sich in fast jeden Menschen verwandeln. Vielleicht sogar in einen Mann.«
»Das haben wir auch überlegt«, gestand Lukel und fuhr mit seinen Händen durch sein Haar. »Trotzdem glaube ich nicht, dass sie es war. Die Größe zu verändern wäre selbst für eine Sternenbestie eine extreme Maßnahme.«
»Es ist jedenfalls kein gutes Zeichen, dass ihr mindestens noch eine Bestie in eurem Gebiet habt«, unterbrach Fynn die Grübeleien. »Wie viele treiben hier ihr Unwesen? Es scheint, als würdet ihr zu viel Aufmerksamkeit auf euch ziehen.«
»Jetzt mach dir nicht gleich in die Hose.« Shiori lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Wir werden schon fertig mit ihnen.«
Bevor Fynn zu einer harten Antwort ansetzen konnte, fragte Raphael tonlos: »Hatte dieses Mädchen ein Muttermal über der linken Augenbraue?«
Lilly sah ihn mit schräg gelegtem Kopf fragend an. »Das weiß ich nicht, es war dunkel, und ihre Locken verdeckten ihr Gesicht teilweise.«
Er nahm sein Colaglas in die Hand und drehte es zwischen den Fingern, doch sie waren so zittrig, dass es ihm beinahe entglitt.
»Alles in Ordnung?«, fragte Torge.
»Es ist … Ach, vergesst es.« Raphael senkte den Blick. »Das kann nur ein Zufall sein.«
»Es gibt keine Zufälle.« Fynn sah ihn unbarmherzig an. »Was es auch ist, wir müssen es wissen. Ich will keine bösen Überraschungen erleben.«
Raphael holte tief Luft und musste seinen ganzen Mut zusammennehmen, um die folgenden Worte auszusprechen: »Die Beschreibung erinnert mich an Amadea, und vor einigen Tagen glaubte ich, sie zu sehen.« Er vermied jeden Blickkontakt zu Lilly, malte sich nur aus, wie sie ihre Augen aufriss und ihn ungläubig anstarrte. Ja, der Albtraum, in dem sie gefangen waren, konnte noch schlimmer werden.
»Wer ist das?«
»Sein Zwillingsstern«, half Ras aus.
Nun erwachte auch Mikael mit jäher Heftigkeit aus seiner Teilnahmslosigkeit. »Dein Zwillingsstern lebt noch, und du lässt zu, dass sie Lilly, deine Freundin, tötet?«
»Nein«, stammelte Raphael hilflos. »Ich sah sie vor zweihundert Jahren sterben.«
Und so berichtete er ihnen von dem schlimmsten Tag seines Lebens. Dem Tag, an dem Amadea den Tod fand.
33
† D amals war ich gerade nach Europa gereist. Nach dem Tod meiner gesamten Familie hielt ich es in Amerika nicht länger aus, also heuerte ich auf einem Schiff an und setzte in die Alte Welt über.
Zumindest dachte ich zu der Zeit, dass dies meine Beweggründe waren. Heute weiß ich, dass mich da bereits der Ruf meines Zwillingssterns ereilt hatte. Die Sternenseelen waren noch nicht so organisiert wie in diesen Tagen. Die modernen Kommunikationswege fehlten, außerdem waren wir zu wenige, um ein stabiles Netzwerk aufzubauen. Das war auch einer der Gründe, warum die Sternenbestien so viele von uns töten konnten. Aber das ist eine andere Geschichte.
Jedenfalls war ich von Europa fasziniert. Aus dem heutigen Maine kannte ich nur Holzhäuser, feuchte Hitze im Sommer und tiefe Wälder, während hier zwar alles beengt wirkte, aber zugleich mit den robusten Steinhäusern, den uralten Gemäuern und langen Ahnentafeln eine Stabilität vermittelte, die ich verzweifelt gesucht hatte. Die engen Gassen, der alles überlagernde Gestank nach Fäkalien und der Aufruhr, in dem die Länder lagen, taten meiner Begeisterung keinen Abbruch. Zudem gab es zu dieser Zeit in Europa weitaus mehr Sternenseelen als in der Neuen Welt, und sie waren nicht so sehr voneinander isoliert. Selbst für uns bedeuteten die Unterschiede in den
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