Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
Bildes enthüllt, dessen Existenz sie schon immer erahnt hatte.
Anni begleitete sie noch bis zum Schlaftrakt, bevor sie sich unauffällig verabschiedete. Ihnen war beiden klar, dass sie nicht plötzlich als Bekannte oder gar Freundinnen auftreten konnten. Das hätte zu viele Fragen mit sich gebracht, und magisches Wesen hin oder her – Calista wollte nicht auch noch ihren Ruf opfern.
Ihre Mitbewohnerin lag schon im tiefen Schlaf, sodass sie direkt ins Bett gehen konnte, speicherte jedoch vorher Annis Nummer ab und durchsuchte jede Ecke des Zimmers auf unerwünschte Eindringlinge.
31
† D as leise Gemurmel, das durch die geschlossene Zimmertür drang, das gelegentliche Scharren von Füßen und der fremde Geruch in der Bettwäsche ließen Lilly nicht zur Ruhe kommen. Dabei wünschte sie sich nichts mehr, als das außer Kontrolle geratene Karussell ihrer Gedanken zum Stillstand zu bringen.
Sie hatte so unendliche Angst – sie fraß sich wie ein Schwarm hungriger Maden in ihre Eingeweide, zerrte an ihren Magenwänden, strich an ihrer Bauchdecke vorbei. Sie fürchtete den Sonnenaufgang, sie fürchtete Raphael zu verlieren – oder hatte sie das schon? –, sie fürchtete das Leben als Sternenseele, den Krieg, in den sie nun unwiederbringlich hineingezogen wurde. Kämpfen oder sterben – unter diesem Motto stand ihr neues Leben. Ein Dasein, dem sie ohne Freund, ohne Familie gegenüberstand.
Was aus Moni werden würde, falls man sie zwang, ihrer Mutter den Tod vorzuspielen? Lilly glaubte nicht, dass sie es verkraften würde, und das bekümmerte sie von allem am meisten.
Sie richtete sich auf. Weiter an die Decke zu starren brachte sie keinen Schritt vorwärts. An ihrer Situation würde sich nichts ändern, wenn sie nichts dafür tat, und zumindest das Recht, weiter bei ihrer Mutter leben zu dürfen, wollte sie sich erstreiten. In einer Ecke stand ein Kanister mit Wasser und eine Schüssel, die sie nahm, um sich die verdreckten Füße zu waschen. Beschämt sah sie auf das beschmutzte Bettlaken, vorhin war sie zu keinem klaren Gedanken mehr fähig gewesen und hatte sich einfach fallen gelassen, sich gewünscht, durch die Matratze in einen Schlund ins Nirgendwo zu stürzen.
Nachdem sie sich ein paar Socken und eine Nummer zu große Schuhe angezogen hatte – ein weiterer Beweis für Leas sorgende, liebevolle Art –, ging sie in den Gemeinschaftsraum, in dem bereits alle bis auf Raphael und Mikael saßen und sich in zwei Lager aufgeteilt flüsternd unterhielten. Bei ihrem Eintreten sahen sie auf und musterten sie von oben bis unten wie ein Stück Vieh, das zum Verkauf stand.
»Fangen wir an«, schlug Ras vor. »Wir haben einiges zu besprechen.« Zum ersten Mal verstand Lilly, warum er der Anführer war. Er sprach, als bestünde für ihn kein Zweifel daran, dass man seinen Vorschlägen Folge leisten würde, und durch seine eigene Selbstsicherheit brachte er Ruhe in die sichtlich nervöse Gruppe.
»Was ist mit Raphael und Mikael?«, wagte Lilly zu fragen, während sie sich einen Stuhl heranzog.
»Wenn sie dazu bereit sind, werden sie zu uns stoßen«, stellte Fynn fest.
»Das bin ich.« Niemand hatte Raphael hereinkommen hören, aber da stand er mit hartem Gesicht, aus dem die vor Zorn und Trauer dunklen Augen hervorstachen.
Ihre Blicke trafen sich kurz, er schien etwas sagen zu wollen, doch dann wandte er sich ab und setzte sich neben Felias, sodass Lilly ihn nicht mehr sehen konnte, ohne sich den Hals zu verrenken. Sie schloss die Augen, als sie merkte, wie sie feucht wurden. Nicht heulen. Nicht jetzt.
»Zuerst müssen wir uns den praktischen Dingen zuwenden«, sagte Ras.
»Mich würde viel mehr interessieren, wie sie gestorben ist. In Lucretias Gegenwart geschehen solche Dinge nicht ohne Grund«, wandte Fynn ein.
»Später – Lillys weiteres Schicksal muss geklärt werden, wenn wir keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen wollen.«
»Sie verschwindet einfach«, sagte Felias. »Hat bei mir auch funktioniert.«
»Das war im neunzehnten Jahrhundert, Idiot«, maulte ihn Shiori an. »Heute werten sie ein Menschenleben viel zu hoch und machen um jeden Einzelnen einen riesigen Aufstand.«
»Kann ich nicht vorerst bei meiner Familie bleiben?«, fragte Lilly. »Ich könnte weiter zur Schule gehen und meine Augen offen halten.«
Ras schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich. Wir wissen nicht, wie stark du dich während des Tages veränderst.«
»Wir haben Winter. Es ist nur wenige Stunden hell, und da bin ich in der
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