Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
versprach mir so viel. Gespräche, die wir führen würden. Schriftrollen, die sie für mich entziffern würde; Geschichten, von denen sie wollte, daß ich mich an sie erinnere, Sketche, die sie aufführen würde. Aber alles, was mir blieb, waren Versprechen.«
»Sie nahm an, sie würde zurückkommen«, warf Khira unsicher ein.
Alazaja nickte ernst. Sie ging langsam weiter und achtete nicht darauf, wohin sie ihre Füße setzte. »Sie zog es nicht einmal in Betracht, daß sie nicht zurückkehren würde. Sie war sich so sicher; sie übte nur gerade wenige Tage. Und nachdem sie sich zu den Berggipfeln aufgemacht hatte, fanden die Linsenpfleger ihr Bündel auf einem Stein neben dem Weg. Sie hatte nicht einmal ihr Brot gegessen. Ich nehme an, sie dachte, sie würde es später essen, wenn sie vom Berg herunterkäme.«
Khira runzelte die Stirn. Mara hatte ihr Leben gedankenlos und leichtsinnig fortgeworfen. Aber noch immer war Alzaja nicht wütend, sie war es niemals gewesen. Sie sprach ruhig, als hätte sie Maras Sorglosigkeit überhaupt nicht betroffen. »Alzaja ...«
»Ich habe dich nach jemandem benannt, der in den alten Schriftrollen erwähnt wird, Khira. Nach Khirsa. Erinnerst du dich?«
»Ich ...«,verwirrt suchte Khira in ihrem Gedächtnis. »Sie war eine Hirtin«, erwiderte sie unsicher.
»In jenen Zeiten gab es mehr Raubtiere in den Bergen. Und die Menschen waren stärker auf ihre Schafe angewiesen, als wir es jetzt sind. Jeden Frühling trieben die jungen Hirten ihre Schafe zur Weide, und wenn Raubtiere auftauchten, mußte der Hirte gegen sie angehen. Es gab keinen anderen Weg. Jedes Jahr starben Hirten, die versuchten, ihre Herde zu schützen.
Aber die Menschen hatten damals einen Glauben«, Alzaja hielt wieder inne, blickte auf die aufblitzenden Spiegel, die das Sonnenlicht den Berg hinunter reflektierten. »Sie glaubten, wenn sie eine Silberschwinge über dem Berg sahen,
wäre einer der Hirten gestorben, während er ein Bergtier tötete.«
»Sie dachten, die Hirten verwandelten sich tatsächlich in Silberschwingen«, sagte Khira, die sich an die Geschichte erinnerte. Stirnrunzelnd versuchte sie, sich auf den Augenblick zu konzentrieren. Später wäre Zeit genug, sich Gedanken darüber zu machen, weshalb Alzaja nicht zornig auf Mara war, und warum sie jetzt nicht eingeschüchtert war. »Sie – sie dachten, die Berge besäßen die Macht, und wenn die Hirten sich dieser Macht bedienten, um ein Raubtier zu töten, würden sie verwandelt.«
»Ja, und verwandelt lebten sie ein Jahr in der Gestalt einer Silberschwinge. Dann verbanden sie sich mit dem Netz der Bergmacht und lebten dort für immer. Sie wußten nicht, daß die Sonne die Quelle der Kraft ist, nicht die Berge.
Aber als Khirsa die Macht der Berge anrief, um den Breeterlik zu töten, der ihre Mutterschafe gerissen hatte, veränderte sie sich nicht. Sie tötete ihn, bekam aber dennoch keine Silberschwingen. Und später, als sie aufbrach und den Berg hinabstieg, fand sie ein Nest eben flügge gewordener Silberschwingen hinter einem Felsblock. Sie erkannte, daß es nur eines bedeutete, wann immer sie eine Silberschwinge am Horizont erblickte: Irgendwo dort lag eine zerbrochene Schale, und eine Vogelmutter beobachtete den Flug ihres eben flügge gewordenen Jungen.«
Khira biß sich auf die Lippen. In der Geschichte war Khirsa wütend gewesen – wütend darüber, daß die Menschen, die sie geschickt hatten, die Schafe zu bewachen, gelogen hatten. Erinnerte Alzaja sich nicht daran?
Aber wann war Alzaja jemals wütend gewesen? Khira versuchte, sich ein einziges Mal ins Gedächtnis zu rufen, aber sie erinnerte sich nur an Geduld und Lachen und an viel von der Gelassenheit, wie Alzaja sie auch heute besaß. Khira war immer die stürmische gewesen.
»Ich habe dich nach Khirsa benannt, weil ich dir wünschte, daß du nach der Wahrheit hinter jeder Legende, gleich welcher, suchst, die dir zu Ohren käme. Ich wollte, daß du weißt, daß unsere Mutter einmal eine Palasttocher war und jetzt eine Barohna ist, weil sie stark und eigensinnig war und gut trainiert zu den Bergspitzen ging. Ich möchte, daß du weißt, wenn du an einem getöteten Tier vorbeikommst, daß sich jemand oder etwas stärker als das Tier gemacht und sein Leben über das des Tieres gesetzt hat. Ich möchte, daß du weißt, daß Menschen, wenn sie sich auf Kräfte außerhalb ihrer selbst verlassen oder in ihnen, ihrer eigenen Entwicklung nicht genügend Aufmerksamkeit zukommen ließen
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