Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
konnte. »Und ich denke nicht, daß es eine Schwester geben wird. Ich werde niemanden haben, den ich großziehen kann. Ich werde einsam und die letzte sein.« Unzufrieden bemerkte sie an sich den Ton eines verwöhnten Kindes, ungeduldig und weinerlich. Und sie wollte doch nicht, daß ihre letzte Stunde mit Alzaja eine Stunde sei, die in der Erinnerung bitter schmecken würde. Sie biß sich auf die Lippe und sagte mit einer Stimme voller Tränen; »Alzaja ...«
»Du mußt es wissen«, sagte Alzaja. »Du mußt wissen, wie eine Barohna stirbt.«
Khira rang zitternd nach Atem, in einem betäubenden Kältegefühl gefangen. Woraus bestand das Geheimnis des Eises und des Steines? Sie hatte, als sie noch jünger war, oft genug danach gefragt, wie man eine Barohna wird. Die Schriftrollen waren voll von Berichten über das Sterben anderer Menschen – friedlich während des Winterschlafs oder heldenhaft, während sie in der Hitzeperiode ihren Vorrat verteidigten; elend während der kurzen Zeit der Unruhen.
Aber wenn eine Barohna sich in den Ebenen zur Ruhe setzte, ging sie einfach über die Geschichtsrollen hinweg und trat in das Geheimnis hinein, ohne Zeremonie, ohne Begründung.
»Ich weiß, wie die Wächterinnen der Rotmähnen sterben«, sagte sie zögernd. Sie und Alzaja waren einmal zu der Ebene gegangen, in der die Rotmähnen lebten, vor zwei Jahren, zur Vereinigungszeit. Sie hatten ihre Großmutter besucht, die sich mit ihrer Steingefährtin Upala dorthin zurückgezogen hatte. Sie fröstelte, das Bild war noch deutlich. Zuerst lag Stille über den versammelten Herden; Tausende von Tieren standen bewegungslos unter einem dämmrigen Himmel; dunkelgekleidete Wächterinnen achteten darauf, daß keines aus der Reihe tanzte. Dann erschienen die beiden Monde hinter den Bergen, und die Rotmähnen begannen, mit den Hufen zu stampfen. Sie stampften, bis die ganze Fläche das Pochen eines einzigen Herzens zurückzuwerfen schien; sie stampften immer drängender, immer schneller, bis Khiras Blut den Rhythmus aufnahm und sich in ihm bewegte. Das Blut pulsierte immer rascher durch ihren Körper. Sie nahm nichts anderes mehr wahr als das dröhnende Rauschen in den Ohren, und sie dachte an nichts anderes mehr als das Wissen um die Herde und den Herzschlag der Ebene. Schließlich war sie hingefallen, als ihr Herz wie rasend schlug, und sie hatte hilflos auf dem bebenden Boden gelegen, bis die Vereinigung beendet und die Rotmähnen still abzogen und ihre Toten zurückließen.
Sie ließen auch Wächterinnen zurück, die zu alt oder schwach gewesen waren, um dem rasenden Schlagen ihrer Herzen widerstehen zu können. Auf ihren Gesichtern hatte Khira Überraschung und Verzückung gesehen. Alzaja hatte die betäubte Khira am Arm fortgeführt.
Die ersten Barohnas waren aus dem Lager der Wächterinnen hervorgegangen, aber die Barohnas selbst waren keine Wächterinnen. Barohnas starben nicht während der Vereinigung. Oder?
Alzaja legte ihren Arm fest um Khira. »Schwester, schau die Blüten«, bat sie sanft. »Schau sie dir an, so leuchtend und so glücklich. Ich habe dir erzählt, was die Vorzeiter dachten; daß die Bäume Blüten hervorbringen, um die Insekten anzulocken. Daß die Insekten dann den Blütenstaub von Blüte zu Blüte tragen und sie befruchten.«
Khira lachte verächtlich.
»Ja, genau das dachten sie«, sagte Alzaja ebenfalls lachend. »Möglicherweise war es dort so, wo sie herkamen, bevor sie strandeten. Kann sein, daß Insekten wie Vögel fliegen. Aber wir wissen, daß die Blüten einzig und allein dazu da sind, die Kinder zu erfreuen, die mit den Bürsten kommen. Davor senden sie ihren Duft aus, und die Monitoren der Obstgärten wissen, es ist an der Zeit, die Kinder zu schicken. Und wenn dann die Kinder mit den Bürsten gekommen sind und die Blüten befruchtet haben und die Frucht zu reifen beginnt, fallen die Blüten ab. Weil sie ihren Zweck erfüllt haben. – Ich habe meinen Zweck in deinem Leben jetzt ebenfalls erfüllt. Ich bin bereit abzufallen, damit deine Ernte süß wird, Khira. Aber deine Frucht kann nicht reifen, ehe ich von dir abgefallen bin.«
Hielt sie denn Alzaja für eine Blume, mit leuchtenden, blauen Blütenblättern und einem samtigen Staubgefäß? Eine Blüte, die sich im Sonnenlicht wärmt, um dann ruhig zur Erde zu schweben; verloren in der Menge gefallener Blütenblätter, die sich jedes Jahr unter den Bäumen häufen? »Du bist kein Abfall, Alzaja!«
»Aber ich werde es sein, sobald ich dir
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