Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
...«
»Wie Mara ...«
»Wie Mara. Ich möchte, daß du weißt, daß dich ein Tier bekommen wird, wenn du aufhörst, dich vorzubereiten.« Ihr Blick wich einen Augenblick zur Seite. »Aber, Khira, da gibt es noch etwas anderes. Da ist ...«
Khira konnte nicht mehr zuhören. »Alzaja, geh nicht«, bat sie in einem leidenschaftlichen Ausbruch. »Es gibt doch noch andere Jahre. Keiner wird etwas dagegen sagen, wenn du mit mir zurückkehrst. Sie werden froh sein. Und das nächstemal kannst du deinen Tag später ansetzen. Du kannst intensiver üben. Du mußt nicht heute gehen!«
»Nein, Khira. Ich muß jetzt gehen«, sagte Alzaja einfach, kaum beunruhigt. »Aber bevor ich gehe ...«
»Nein!« Wie viele Gründe könnte sie nennen? Jeder davon lief auf eine quälende Bitte hinaus. »Ich werde einsam sein.«
Khiras Bitte schien den leichten Wind in den Bäumen zu bewegen. Blätter raschelten; Frühlingsdüfte trieben träge durch die Luft. Die verdrehten Äste der Obstbäume waren mit Blüten übersät. Bald würden hier lachende Kinder umhertollen, und in diesem Sommer gäbe es Früchte jeder Art. Aber heute war nur Khira hier, weinend, und Alzaja, die sie umarmte. »Ich muß gehen, Khira. Noch ein weiteres Jahr, und ich werde zu alt sein, um auf die Bergspitzen zu gehen. Dies ist mein Jahr.«
»Du wirst nicht zu alt sein«, beteuerte Khira. »Du kannst deinen Tag im nächsten Jahr später ansetzen. Du kannst
härter trainieren und kräftiger werden. Und wir würden während des Winters miteinander kämpfen. Die Polster, die Hassel für uns gefertigt hat, damit wir mit den Spießen arbeiten können – wir haben sie kaum benutzt.« Khira hatte die ihren zweimal geschnürt. Sie waren unbequem und kratzten. Aber wenn sie Alzaja während des Winters angehalten hätte, mit ihr zu kämpfen, wäre Alzaja bereits zur Frühlingsschmelze abgehärtet gewesen.
Alzaja zog Khira sanft hinunter, um mit ihr unter den Bäumen zu lagern. »Ich denke nicht an die Stärke der Spieße, Khira. Ich denke an den Mut, den es kostet, dich zu verlassen. Jedes Jahr habe ich weniger. Ich weiß, du wirst einsam sein, und ich bin traurig darüber. Aber du bist jetzt älter, und du bist kräftig. Alt genug und kräftig genug. Und ich habe dir jetzt alles gesagt – bis auf das eine. Ich habe dir noch nichts über das Eis und den Stein erzählt.«
Das eine Geheimnis, das in den Schriftrollen nur angedeutet war. Wie oft hatte Khira Alzaja deswegen bedrängt? Wie oft hatte sich Alzaja ihr entzogen? Ohne es zu beabsichtigen, packte Khira Alzajas Arm; ihre Finger drückten in plötzlicher Erregung zu. »Du hast es dir bis jetzt aufgespart, damit ich nicht mit dir streite. Du hast es aufbewahrt ...« Um sie zu vertrösten, wie sie ein kleines, tapsiges Kind bei einem Schnitt in den Finger mit einem Stückchen getrockneter Frucht trösten würde. »Du ...«
»Ich behielt es für mich, weil dies die Zeit ist, da ich es dir sagen muß. Gerade jetzt, bevor ich gehe. Auch Mara hat es mir bei dieser Gelegenheit erzählt. Ich ging ebenso weit mit ihr, und wir setzten uns unter die Bäume. Und nachdem sie mit mir über das Eis und den Stein gesprochen hatte, stieg sie den Berg hinauf, und ich kehrte in den Palast zurück. Und mit den anderen war es das gleiche. Sukiin erzählte es an dieser Stelle Kristyan, Kristyan erzählte es Hedia, Hedia erzählte es Denabar ...«
»Gut; aber sogar wenn ich hinnehme, daß du es mir erzählst, werde ich dich an dieser Stelle nicht verlassen«, erwiderte Khira heftig. »Mich kümmert nicht, was die anderen getan haben. Ich begleite dich bis zu den unteren Weiden. Ich gehe mit dir zu ...«
»Du wirst mich hier verlassen«, erklärte Alzaja. »Und du kannst dich nicht weigern, mich anzuhören. Das Eis und der Stein stammen aus den frühesten Zeiten der Barohnas, aus den Tagen, als die ersten Barohnas lernten, den Sonnenstein zu benutzen – aus der Zeit, da Niabi das Feuer befreite und Lensar zu Asche wurde. Das Wissen darum ist stets von der älteren Schwester auf die jüngere übergegangen. In dem Augenblick, da für eine der Schwestern die Zeit gekommen ist, geht es von ihr auf ihre nächste Tochter über.«
»Dann brauchst du es mir nicht zu erzählen. Ich habe keine jüngere Schwester.«
»Es gab auch für mich keine jüngere Schwester, als ich elf war, Khira.«
»Ich wurde erwartet«, betonte Khira. Zu allem anderen Ärger mußte sie noch die Wut darüber ertragen, daß sie Alzajas Gemütsruhe nicht durchbrechen
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