Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
Schmelzwasser bis zu den Kanten der Dämme, überschwemmte die Felder und ließ an ihrer Stelle eine Anzahl von Tümpeln entstehen. Nach und nach versickerte dann das Wasser, bis man den Boden bearbeiten konnte.
Ihre Augen beschattend sah Khira, wie Yvala eine ihrer Gruppen die breiten Dammstufen hinunterführte. Eine Arbeiterschar folgte mit dem Pflug, den die Gruppe ziehen würde. Entfernt arbeitete bereits das andere Team in einem abgetrennten, eingedämmten Feld. Einige Arnimi beobachteten sie vom Damm aus; ihre silbernen Anzüge glitzerten im Sonnenlicht.
Die Dammkronen waren breit, und der Fußgängerverkehr von den Feldern überquerte sie zu den Steinavenues. Khira folgte Alzaja und spürte deutlich die Gelassenheit ihrer Schwester. Alzaja achtete kaum darauf, wohin sie ihre Füße setzte: Statt dessen blickte sie heiter Terlath entgegen, als könnte sie bereits ihr Tier dort sehen – irgendwo auf den vereisten Hängen –, als sähe sie es schon tot.
Oder als ob ... Aber Khira ließ den Gedanken fallen, ohne sich mit ihm auseinanderzusetzen. Der Morgen war klar, der Wind warm. Niemand konnte an einem Tag wie diesem sterben.
Aber auf Terlaths Hängen lagen noch Eis und Schnee. Es würde mehrere Hände von Tagen dauern, bevor das erste Frühlingsgras die Schultern des Berges begrünen und die Hirten ihre Schafe auf die Weide treiben würden.
»Wenigstens werden die Winterbestien schwach sein«, sagte Khira laut. Vielleicht wären die fürchterlichsten noch im Winterschlaf.
»Niemand geht zum Berg, um ein schwaches Tier herauszufordern.«
Khira betrachtete Alzaja scharf. War sie wirklich so ungerührt? Doch Alzaja hatte recht. Die unerklärliche Drüsentätigkeit, die mit der Barohnaschaft verbunden war, konnte nicht erworben werden durch die Konfrontation mit einem Tier, das der Winter geschwächt hatte. Schnell blitzten Bilder von Breeterliks, von Felsleoparden, von Schneeminxen in Khiras Geist auf. Die Schneeminxe waren selten; schwer faßbar, weiße Schatten, die im Schnee umherstreiften. Sie hatte viel häufiger Schneeleoparden gesehen, die auf der felsigen Kammlinie der Berge patrouillierten, und bereits mehrmals Breeterliks. Das waren schwerfällige Tiere mit feurigen Augen, aus deren Ringmuskel Säure entwich, wenn sie ihn zusammenzogen. Einmal hatte sie sogar einen Klipp-Charger erblickt, der auf seinem schweren Rückenschild die Hänge hinunter krachte und polterte. Als er eine ebene Fläche erreicht hatte, war er wieder auf die Füße gekommen – stummelartige Füße an kurzen, einziehbaren Beinen – und war davongestapft, ohne sie zu sehen. Wenn er sie entdeckt hätte, wenn er angegriffen hätte ...
Aber er hatte nicht. Khira fröstelte. Die Jäger fingen die Tiere des Berges mit klingenbesetzten Spießen und Bögen. Alzaja trug dagegen nur einen Spieß mit sich, und ihre geschärften Nägel. Aber während die erfolgreichen Jäger kaum mehr als Fleisch und Fell mit nach Hause brachten, könnte Alzaja mit der Macht zurückkehren, Sonnenenergie einzufangen und sie im Sonnenthron zu speichern. Wenn ...
Sie überquerten den letzten Damm und stiegen zu den Obstgärten hinab, die um die sprießenden Felder angelegt waren. Hier war – durch die Nähe des Berges – die Luft kühl. Die Bäume blühten trotzdem, ihre Blütenblätter wiegten sich verführerisch im Wind und verhießen Sommerfrüchte.
»Hast du jemals erraten, Khira, nach wem ich dich benannt habe?« sagte Alzaja, als sie die Bäume erreichten. Khira unterbrach ihre Gedanken abrupt. »Du sagtest, du würdest es mir erzählen«, kam es ihr wieder zu Bewußtsein. »Und du sagtest, da wäre noch etwas anderes, was du mir heute erzählen würdest.« Denn diesmal hatte die Sorge die Neugierde besiegt. Sie hatte Alzajas Versprechen vollkommen vergessen.
Alzaja beugte den Kopf, Sonnenlicht, das durch die hellen Blüten drang, färbte ihre bleichen Wangen. »Ich bin darauf bedacht gewesen, dich nur mit diesen beiden Versprechen zu verlassen. All die anderen Dinge, die ich jemals versprach, habe ich erfüllt.« Sie hielt inne und schaute kurz zu den Bäumen hinauf. »Es war anders, als Mara ging.«
Khira schaute ihre Schwester scharf an. Ihre Stimme klang so hell, so unbeteiligt. Sie hätte unterwegs sein können, um String-Gras für den Koch zu sammeln. Sie versuchte, sich Alzajas gleichgültigem Tonfall anzupassen. »Du sagtest mir ... es gab da Dinge, die Mara nie tat. Dinge, von denen sie sagte, daß sie sie tun könnte.«
»Ja, sie
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