Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
geschnürten Stiefeln völlig nackt.
»Du wirst frieren«, sagte Khira. »Alzaja, heute nacht –du wirst ...«
»Wir wollen nicht darüber sprechen«, erwiderte Alzaja, aber ein deutliches Stirnrunzeln durchbrach ihre Gelassenheit, und für einen Augenblick wurden die Finger, die den Spieß umfaßten, weiß.
Ihre Schritte hallten durch die Flure. Der Frühling war eine stille Zeit im Palast, während es außerhalb geschäftig zuging. Sie trafen nur ein paar Trimmer, die die übergroßen Stengel der Stengellampen kappten und die leuchtenden Abschnitte zu einem Haufen zusammenkehrten. Und sie trafen den Gehilfen des Kochs, der bei ihrem Erscheinen erschrocken auffuhr und davoneilte.
Einmal hörten sie in der Nähe eine Gruppe von Arnimi, die einige Projekte diskutierten, Khiras Lippen wurden schmal vor Abscheu. Sie legte keinen Wert darauf, sich heute mit den Arnimi und ihren kaltäugigen Fragen zu beschäftigen. Alzaja offenbar auch nicht. Sie beschleunigte ihren Schritt.
Sie fanden Tiahna auf dem Thron sitzen; die Spiegelreihen an den Wänden des Thronsaals vereinigten sich über ihr. Sie saß in einer Fülle von Licht, der Thron strahlte warm unter ihr. Ihre Haut war noch schwarz von der Frühlingsschmelze, und die Augen glühten teilnahmslos in ihrem dunklen Gesicht. Als Alzaja und Khira über den glatten Steinboden schritten, berührte Tiahna unbewußt den Paarungsstein, der an ihrem Hals hing. Das war die einzige Geste, die ihre Erregung verriet.
»Ich sehe, du hast deinen Spieß, Tochter«, sagte sie. »Und dein Bündel.« Ihre Stimme war dunkel; sie kam tief aus ihrer Kehle.
»Ja, ich gehe jetzt zum Berg«, erwiderte Alzaja, als wenn es nicht schon das ganze Tal wüßte. Ihre Stimme war hell, klar, aufrichtig. »Entweder ich komme so groß wie du zurück, oder überhaupt nicht.«
»Dann komm groß zurück«, sagte Tiahna mit belegter Stimme; unter ihren Fingern schimmerte der Paarungsstein blau. »Da gibt es Täler mit leeren Thronen, kalte Orte, wo keiner mehr lebt. Möge sich dieses Tal durch die Sonne erwärmen, die dein Gesicht berührt.« Die Worte entsprachen dem Ritus. Seit Jahrhunderten gaben die Barohnas sie ihren scheidenden Töchtern mit auf den Weg. Ihr Sinn schien Tiahna kaum zu berühren.
Aber irgendwo in ihr war ein Gefühl. So mußte es sein, es sei denn, Tiahnas Aufmerksamkeit war nicht auf Rahela gerichtet. Bestimmt fühlte sie etwas für Alzaja; ein wenig Angst, ein wenig Bedauern – ein wenig Zorn darüber, daß auch Alzaja gehen mußte, wie bereits Tiahna zuvor gegangen war.
Khira blickte starr zu Alzaja. Keiner wußte, welches Tier Tiahna getötet hatte, um ihren Thron zu erwerben. Sie hatte nie darüber gesprochen. Würde Alzaja genauso entfremdet zurückkommen wie Tiahna? Ebenso groß, so stark, so weit entfernt? Und wenn dann einer der herumreisenden Meister der Edelsteine einen erst kürzlich geschnittenen Paarungsstein um ihren Nacken legen würde, und er Feuer finge ... aber Khira wollte jetzt nicht an den Verlust der Vertrautheit denken, der sich einstellen würde, fände Alzaja eine Steingefährtin.
»Wenn ich komme, werde ich Licht zum Thron bringen«, antwortete Alzaja, wie es das Ritual vorschrieb. Sie nickte, drehte sich um und ging voran aus dem Thronsaal. Khira schaute noch einmal kurz zurück. Tiahna blickte ihnen leidenschaftslos nach; ihr von der Sonne dunkles Gesicht verriet nichts. Aber Khira bemerkte, daß sie ihre Finger um den Paarungsstein gepreßt hatte.
Es war Tradition, daß keiner aus den Steinhallen von der Palasttochter an deren erwähltem Tag Abschied nahm. Und so kam es, daß, als Alzaja und Khira den Palast verließen und die Plaza überquerten, die zu den steinernen Avenuen führte, die an ihnen vorübergehenden Menschen – Boten, Steinmetze und Wäscher – die Augen abwandten oder nur heimlich nickten. Und daß die zufällig auftauchenden Kinder, noch zu jung für die Felder, ihnen mit erregten Gesichtern und zusammengepreßten Lippen wortlos nachhüpften.
Der Palast war auf einer Anhöhe im Mittelpunkt des Tales erbaut worden. Steinhallen, Fabriken und Warenlager waren in konzentrischen Kreisen um ihn herum entstanden. Steinavenuen erstreckten sich von diesem Zentrum aus und wurden schmaler, je mehr sie sich den Feldern näherten. Der wertvolle Boden der Felder war vorsichtig in einer Reihe breiter, ineinander übergreifender Steindämme eingefriedet worden. In den ersten Tagen nach dem Einsetzen der Frühlingsschmelze stand das
Weitere Kostenlose Bücher