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Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit

Titel: Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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Ungewißheit.
    Morgen. Morgen würde er sie fragen:
Kadura, ich weiß, daß Wächterinnen während der Vereinigung sterben. Die Alten, die Untauglichen, die Müden; sie fallen dann aus. Khira hat es mir erzählt. Aber was mir niemand gesagt hat: Fallen auch Barohnas während der Vereinigung?
    Du siehst jetzt alt und müde aus, viel älter, viel müder, als zu der Zeit, als wir das erste Mal in die Ebene kamen. Wirst du sterben, wenn sich die Herden sammeln?
    Kadura rührte sich; das Licht einer einzelnen Laterne fiel über ihr Gesicht und ließ es wie eine Totenmaske erscheinen. Dunkeljunge preßte die Augen zu und verkroch sich in seinem Bettzeug.
    Am nächsten Morgen war das Klappern vieler Hufe im Lager. Rotmähnen zogen in nichtendenwollender Anzahl vorbei; die Köpfe gebeugt, die Flanken staubig. Dunkeljunge schaute von der Tür in Kaduras Kefri aus zu. Da waren dunkelverhüllte Gestalten unter den Tieren zu sehen; Wächterinnen, die schweigend mit den fortziehenden Herden schritten. Da gab es hellhaarige Gestalten; die Töchter der Wächterinnen, sie spielten lachend Pilgerfahrt.
    Wieder war Kadura aus dem Kefri geschlüpft, bevor Dunkeljunge aufwachte, aber dieses Mal kehrte sie zur Mitte des Vormittags zurück. Sie war nachlässig in ihren schweren Nachtumhang gehüllt, und der Schatten auf ihren Augen war dunkler geworden. »Wir gehen heute nachmittag mit den Herden, Dunkeljunge«, sagte sie ohne Einleitung. »Die Vereinigung beginnt beim morgigen Mondaufgang. Du wirst der erste Mann sein, der die Vereinigung sieht, seit vielen Jahrhunderten; seit sehr vielen.«
    Er blickte zu ihr auf, sprachlos beim Anblick der Schwärze in ihren Augen.
Kadura …
    Zu spät versuchte er ängstlich, seine stumme Frage zurückzunehmen. Aber er hatte sie sich zu oft vorgesagt. Sie kam von selbst.
    Ihre Erwiderung überraschte ihn. Sie lächelte; ihre Augen hellten sich auf. »Nein, Kind. Barohnas sterben nie während der Vereinigung. Etwas in ihnen ist sehr widerstandsfähig; wir müssen den Tod wollen, bevor dieses Etwas sterben kann. Aber wir verlieren unsere Freundinnen unter den Wächterinnen bei der Vereinigung; und manchmal erkennen wir dann, daß es Zeit ist, das Eis zu nehmen und ihnen nachzufolgen. «
    Wieder konnte er seine Frage nicht zurückhalten.
Kadura wirst du in diesem Jahr das Eis nehmen?
Ohne ihre Steingefährtin, ohne ihre ältesten Freunde und von schwacher Gesundheit – wie lang noch würde sie das Leben wählen?
    Kadura seufzte; die Augen versanken wieder in Schatten. »Sehe ich für dich so alt aus – und so krank?«
    Du siehst älter aus als damals, vor Händen, als wir zum ersten Mal herkamen. Du siehst aus, als verletzte dich etwas.
    Denn das war der Schatten über ihren Augen – Schmerz.
    Sie nickte, jetzt völlig verschattet. »Es gibt viele Dinge, die eine Person wie mich verletzen. Der Verlust meiner Gefährtin, der Verlust von Freunden – aber auch viele andere Dinge. Stell dir vor, du könntest dich in Köpfen bewegen, wie ich es tue. Stell dir alle die Dinge vor, die du sähst und fühltest; um dir dann zu wünschen, es nicht getan zu haben.«
    Die Last der Schmerzen aller Menschen. Der Schmerz aller Verluste, die Menschen trafen; und all das so unmittelbar, als beträfe es sie selbst. Unwillkürlich ergriff er ihre Hand. Sie war unerwartet zerbrechlich, als wenn die Knochen unter der verwitterten Haut trocken und brüchig geworden wären.
Das ist es, weshalb Barohnas schließlich das Eis nehmen,
dachte er.
Wie sie lernen, mehr und mehr in anderen
zu
lesen, bis sie eines Tages zuviel lesen.
    »Eines Tages«, stimmte sie zu, ein trockenes Flüstern, und trat nach ihm in das Kefri.
    Sie reisten an diesem Nachmittag ab und wanderten ostwärts. Dahintrottende Rotmähnen umgaben sie von allen Seiten; ihr Gang war mutlos, die Köpfe waren gesenkt. Niemand ritt. Sie gingen gemeinsam, Frauen, Kinder und Tiere. Während sie gingen, hielt sich Dunkeljunge abseits, unfähig, die Distanz zu überwinden. Etwas ließ ihn fühlen, daß ein großes Lehren auf der Ebene stattfand; daß jedes Tier stumm zu dem Bewußtsein der anderen sprach.
    Obwohl er es versuchte, konnte er sich dem Lehren nicht ganz verschließen. Es war zu beherrschend. Der ganze Boden stampfte davon, wie ein irdenes Herz. Es erreichte ihn durch alle Sinne.
    In dieser Nacht träumte er ein Wirrwarr düsterer Bilder. Entsetzen bewegte sich scharlachrot in seinen Träumen; Verzweiflung folgte schwarz. Er sah alles durch diesen Vorhang

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