Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit

zweite Silberreif den Horizont vollständig erhellte. Dunkeljunge wartete in atemloser Spannung.
Tanzt!
wollte er schreien.
Tanzt, Weißmähnen!
    Aber als beide Monde über den schwarzen Himmel glitten, tanzten die Tiere nicht wieder. Statt dessen stießen sie einen langen zitternden Seufzer aus und begannen langsam mit den Hufen zu stampfen.
    Sie stampften im Gleichklang; die Köpfe gesenkt, als horchten sie auf den Klang der eigenen Füße. Anfangs war der Schlag langsam, ein sanftes Trommeln, das über die Ebene widerhallte wie der Schlag eines irdenen Herzens. Fröstelnd trat Dunkeljunge von einem Fuß auf den anderen.
    Wenn er doch nur aus dem Felsblock eine Insel machen könnte; einen Platz, wo nichts ihn berühren könnte; wenn er über die Tausende von Tieren schauen könnte, aber sich selbst absondern ...
    Das Stampfen wurde heftiger, nachdrücklicher und beschleunigte sich allmählich. Dunkeljunge sah sich um und konnte erkennen, daß die Wächterinnen sich mit gespreizten Beinen gegen die sanft vibrierende Erde stemmten. Er schauderte und versuchte, das Beben zu ignorieren, das ihn selbst hier auf dem Felsblock bei hochgezogenen Füßen erreichte.
    Khira umklammerte für einen Augenblick seinen Arm, dann gab sie ihn frei und glitt vom Felsblock hinunter. Als ihre Füße den Boden erreichten, waren ihre Beine gespreizt wie die der Wächterinnen auf der Ebene. Dunkeljunge starrte erschreckt und fasziniert auf sie hinab. Khira war für den Unterricht nicht empfänglich. Sie schlief immer, wenn die älteste Stute am Teich lehrte. Doch jetzt sagte ihm das langsame, schwere Heben und Senken ihrer Brust, daß ihr Herzschlag langsamer geworden war; daß es im Gleichklang mit dem Rhythmus der Ebene schlug.
    Die Rotmähnen stampften härter und schneller auf den Boden. Dunkeljunge hielt den Atem an und sträubte sich dagegen, sich zu leeren; weigerte sich, dem Zauber, den die Rotmähnen über ihn werfen wollten, in seinem Innern Raum zu machen.
    Aber waren es Rotmähnen? Als das hypnotische Stampfen endete, schien es ihm, als sähe er die Weißmähne wieder zwischen ihnen tänzeln; wie sie die seidige Mähne warf, wie sie die zierlichen Hufe erhob, um auf die Erde zu schlagen. Mit gebogenem Nacken schlug sie die Erde im selben Rhythmus wie die Rotmähnen – schwerer, schneller und sogar viel heftiger. Die Hufe klapperten auf dem Boden und schlugen einen sich deutlich wiederholenden Ton.
    Später konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wann er vom Fels hinabgeglitten war, um sich Khira zuzugesellen, konnte sich nicht daran erinnern, wann er die Füße ge spreizt hatte. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann das Stampfen von Füßen und Hufen zu einem Stampfen seines eigenen Herzens geworden war. Aber Zan hatte sich noch nicht weit über den Horizont erhoben, als des Jungen Wille schwand und der Rhythmus seines Herzens sich veränderte, um in den Rhythmus der Vereinigung einzufallen.
    Das Stampfen der Tausende von Hufen dauerte an, und bald waren alle eins: Rotmähnen und Wächterinnen; der Erdboden, Berge und Monde. Sie vollzogen die Vereinigung.
    Eins.
Die Füße stampften; und die Schranken fielen. Die Füße stampften; und Türen zersplitterten. Die Füße stampften; und die Erinnerungen, die der Lenkende verborgen hatte, wurden offenbart.
    Erinnerungen: die violettäugigen Menschen, die den Jungen hungrig und verlassen im Wald gefunden und ernährt hatten. Die Frau, die sich über ihn gebeugt hatte, ihm beigebracht hatte, Symbole zu schreiben, die der Familie Zutritt zum Tempel verschaffen würden, wo die Gottesstimme sang. Dann die langen, guten Jahre, während derer die Gottesstimme für sie summte und der Familienteich alle die guten Dinge hervorbrachte, die begehrt waren: zarte Knollen, feinwürzige Halme, reiche Saat und Schoten.
    Erinnerungen: das Haar seiner Schwestern, mit den Fingern gekämmt, um die Gottesstimme einzufangen. Nur Frauen und Mädchen konnten die Stimme Gottes auf diese besonders innige Art vernehmen. Aber manchmal – ja, manchmal bildete er sich ein, auch er höre ein dünnes, hohes Singen. Und dann fragte er sich, ob seine Gebete ebenfalls wirksamer werden, ob seine Wünsche Wirklichkeit werden mochten.
    Denn vor dem silbernen Wald und den Menschen, die seine Familie bildeten, lagen noch frühere Erinnerungen: einfache Menschen in einfacher Kleidung. Menschen mit Schmutz unter den Fingernägeln, die den Geruch des Erdbodens an sich trugen. Sie waren dünn über ihre reiche