Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
hatte nie gelernt, den Spieß richtig zu benutzen, nur ihn zu tragen.
Auch richtig zu reiten, hatte er nicht gelernt; aber als er die Grenze des Lagers erreichte, rief er eine Rotmähne, eine gesetzte Stute, die schon lange aus dem Zuchtalter heraus war, und stieg auf ihren Rücken. Die Gangart des Tieres war unstet und schwankend. Aber wenn er hinfiel, war keiner da, um es zu sehen. Die Ebene war heute nacht leer; ihre öde Weite spiegelte seine eigene Leere wider.
Fort – Dunkeljunge war fort. In den zehn Tagen seit der Vereinigung hatte der Lenkende geistige Fühler in jeder Richtung ausgeschickt. Alles was Dunkeljunge auf Brakrath erfahren hatte, war in dem Gehirn, das sie beide teilten, peinlich genau aufgezeichnet: der Geruch der Gewürze in der Küche des Palastes, die Beschaffenheit des Steines unter seinen Fingerspitzen, der Klang der Weißmähnenhufe auf dem Grund des Haines. Selbst jetzt noch – zehn Tage nach Dunkeljunges Tod – war jede Einzelheit frisch. Doch Dunkeljunge selbst war fort.
Der Lenkende seufzte. Selbst der Körper, den sie sich geteilt hatten, fühlte sich anders an: steifer, dicker. Jetzt, da er allein war, waren seine Hände ständig kalt, Lippen und Zunge trocken und dick. Die Nahrung hatte ihren Geschmack verloren, und wenn er sprach, kratzte seine Stimme.
Und Khira – traurig klammerte sich der Lenkende an den Hals der Rotmähne. Besser, Khira hätte ihn offen abgelehnt. Aber sie hatte ihn statt dessen mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit behandelt – und ihn beobachtet. Er hatte hundert Mal am Tag ihre Augen auf seinem Gesicht gefühlt, wo sie nach Dunkeljunge gesucht hatten. Sie hatte nach Dunkeljunge in seiner Stimme gehorcht.
Fort.
Dunkeljunge war gegangen. Und jetzt ... wenn er nur den Mut hätte, selbst ebenfalls zu gehen, wenn er den Mut hätte zuzulassen, daß sich die lebenden Zellen seines Herzens in Eis verwandelten, wie es bei einer Barohna üblich war, wenn sie alt wurde ...
Als er sich den Gipfeln näherte, glitt der Lenkende vom Rücken der Rotmähne. Heute nacht gab es keinen Unterricht. Es waren keine Rotmähnen am Teich. Jetzt war die Jahreszeit, da die Rotmähnen umherzogen und sich paarten. Der Lenkende ging steif, bis er an der Grenze des Teiches stand. Zan lag über der Wasseroberfläche, weiß, durch Krater gezeichnet, leuchtend.
Noch ein Schritt, und ein weiteres Gesicht lag auf dem Teich: dunkel, mit dünnen Lippen, eine schmale gutgeformte Nase, fein gebogene Brauen – und leere Augen. Der Lenkende stand einige Zeit dort und starrte auf sein Spiegelbild, bevor er erkannte, daß seine Lippen sich bewegten, daß er eine Belehrung flüsterte, die ihm selbst galt:
Ich bin ermächtigt, den Jungen
zu
fremden Orten
zu
führen.
Seinen Körper sicher und genährt zu halten.
Ihn anzutreiben, daß er fragt und forscht.
Ihn anzuspornen,
zu
lernen und zu wissen.
Ihn vor dem inneren Wissen abzuschirmen.
Ihn auf das Wissen des Äußeren zu richten.
Die Fakten und Eindrücke, die der Junge sammelt, zu verschlüsseln.
Sie zu speichern und zu bewahren, um dem Wortlaut des Vertrages gerecht
zu
werden.
Am Anfang schien es so einfach. Die Worte des Vertrages waren klar. Und wenn er richtig vorbereitet gewesen wäre (wenn er so gefühllos gewesen wäre, wie die Benderzic es
geplant hatten), dann wären seine Pflichten einfach gewesen. Er hätte den Jungen ohne Gewissensbisse geführt. Er hätte Khira benutzt und sie leichthin beiseite geworfen. Wenn das Schiff gekommen wäre, hätte er den Jungen ohne Zögern zum Helm zurückgebracht.
Und jetzt?
Jetzt, so erkannte er betäubt, könnte er den Jungen immer noch zum Helm zurückschicken. Die erforderlichen Daten waren da, sorgfältig gespeichert, und warteten auf ihre Analyse und Klassifikation.
Aber so gab es Zweifel, Unentschlossenheit, Bedauern –und einander widersprechende Interessen. Was würde der Helm damit anfangen?
Seufzend nahm er seinen Mut zusammen, um zu tun, was getan werden mußte: die Kälte in sein Herz einzuladen. Er verließ den Teich und ging zu dem Platz, wo sich spitze Felsnadeln aus dem Boden der Ebene erhoben. Er blickte leer auf die schroffen Felsen. Dann ließ er sich auf den Boden nieder und saß dort, mit hochgezogenen Knien, die Arme darumgelegt. Er starrte in die leere Ebene und ließ die Kälte der Nacht, die Kälte der Ebene ihn durchdringen. Er dachte an kalte Dinge: Bergschnee, Winterwind, Angst – ohnmächtige Angst.
Er dachte an diese Dinge, und nach einer Weile wurde
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