Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
hast. Natürlich fühlst du dich verringert.
Aber du kannst nach diesem Teil von dir greifen. Du kannst alles zurückbekommen, was dir gehört.«
Nein.
Er wollte es nicht hören. Er war verantwortlich für das, was mit Dunkeljunge geschehen war. Er würde nicht auch noch für das verantwortlich sein, was mit Khira geschehen mochte. Er entzog Kadura die Hände und kämpfte sich auf die Füße.
Er hatte zu lange gesessen. Seine Füße waren verkrampft, seine Beine kaum fähig, ihn zu halten. Er kämpfte gegen die Schwäche in seinen Muskeln an, drehte sich um und stolperte fort, um der alten Frau und dem Gewicht zu entfliehen, das sie auf ihn legen wollte.
Nichts davon – er wollte nichts davon haben. Er wollte Eis, und er wollte Frieden haben.
Sein Herz flatterte, als er von den Gipfeln stürmte. Er schaute nur einmal zurück. Kadura stand dort, wo er sie verlassen hatte; dunkel verhüllt, unbeweglich. Sie hätte aus Stein sein können; eine dreizehnte Bergzinne. Er schrie vor Erleichterung darüber, daß sie ihm nicht folgte. Wie oft noch konnte er sich von ihrer Stärke und Beständigkeit losreißen?
Er wollte nicht zum Hain gehen. Dunkeljunge hatte sorgfältig gespeicherte Erinnerungen vom Hain hinterlassen, vom Whisprey und von der weißverschatteten Weißmähne. Aber wo sonst konnte er sich in den kalten Schatten des noch jungen Morgens verlieren?
Unter Schmerzen machte er sich auf den Weg zu den hohen Bäumen. Bei Tagesanbruch war der Hain ein fremder Ort, die Bäume standen weit auseinander, Sonnenlicht und Schatten bildeten Streifenmuster auf dem Boden. Der Boden unter seinen Füßen war weich und feucht. Gelegentlich sah er Züge von Insekten, die zwischen ihren Unterkünften umhereilten und undeutbare Gegenstände trugen. Er sah kein Anzeichen eines Whispreys; hörte nichts, was ein Nachtrufer sein konnte.
Aber dann war es nicht mehr Nacht. Es war Tag, und als er am Fuß eines turmhohen Baumes saß, im tiefsten Schatten, den er finden konnte, und die Augen schloß, gelang es ihm nicht, die Nachtkälte herbeizurufen. Er dachte an kalte Dinge, aber sein Körper blieb warm. Er stellte sich ein Netz werk aus Kristall vor, das zackig und weiß in seinem Herzen wuchs, aber sein Puls pochte weiterhin regelmäßig.
Schließlich dachte er an Dinge, die Kadura ihm erzählt hatte, dachte daran, was sie von ihm verlangt hatte; da legte er den Kopf auf die Knie und weinte.
Er schlummerte unruhig die meiste Zeit des Tages, die Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen. Er erwachte erst bei Anbruch der Nacht und begann die Kälte in sich zu ziehen. Mondlicht lag über dem Himmel wie ausgestreute silberne Kristalle, zu makellosen metallisch glänzenden Platten geschmiedet. Als er länger hinaufstarrte, zerbrachen die Platten wieder in Kristalle.
Er ließ sich von den tanzenden Kristallen blenden, ließ sich vom Hain forttragen; zurück zu einem tiefen Ort, wo Bruderstimmen sprachen. Und die Gesichter der Brüder –wenn er unverändert in das kristalline Licht starrte, wurde es warm und golden, und tief in sich konnte er die Gesichter der Brüder sehen. Wie oft hatte Dunkeljunge danach gegriffen und dennoch keine klare Vorstellung von den Zügen ihrer nickenden Gesichter davontragen können.
Jetzt griff der Lenkende nach ihnen. Er wollte sich in ihnen verlieren, um ein weiteres undeutliches Bild unter vielen Bildern zu werden; lächelnd und leer, ohne Bewußtsein. Ein Bild hatte keine Verantwortung, keine Sorge. Ein Bild konnte niemanden im Stich lassen. Natürlich war ein Bild nicht mit Leben begabt worden, damit es an eisigen Ufern zerbräche.
Ein Bild hörte nicht seinen Namen, ausgesprochen durch eine Stimme, die er nie wieder hören wollte. »Iahnn! Iahnn!«
Es war Khiras Stimme; sie benutzte den Namen, den sie ihm seit der Vereinigung gegeben hatte. Er stieß zitternd den Atem aus und versuchte sich unter den Gesichtern seiner Brüder zu verlieren.
Zwecklos. »Iahnn! Ich habe die Weißmähne gesehen. Sie stand neben dir. Iahnn – möchtest du ihr nicht nachspüren?«
Die Weißmähne? Er hob verwirrt den Kopf.
»Iahnn! Schau, du kannst seine Abdrücke sehen.«
Nein.
Aber er spähte dennoch hinunter auf den weichen Erdboden. Dort befand sich unverkennbar der Abdruck eines Hufes – und ein weiterer daneben.
Kälte kroch ihm das Rückgrat entlang. Die Weißmähne hatte neben ihm gestanden; so nahe, daß er sie hätte berühren können. Dieses scheue Geschöpf, das Dunkeljunge gebannt hatte, war zu
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