Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
gestorben oder von den Leuten ins Jenseits befördert worden. Niemand erschien, um das Schiff gegen die Plünderer zu verteidigen.
Grunzend und unter Gelächter zerrten die Menschen Kisten und Kartons aus dem abgestürzten Schiff. Die Behälter waren vielgestaltig, aber jeder hatte sein Erkennungszeichen. Der Junge kauerte im Gebüsch und betrachtete die Zeichen; Erinnerungen bewegten ihn. Diese Leute taten nichts so gern, wie mit Stöcken im Schlamm zu zeichnen. Aber hatte er nicht schon einmal ein Schreibinstrument in der Hand gehabt, irgendwo? Hatte er nicht schon einmal Markierungen, die etwas bedeutet hatten, auf eine glatte Oberfläche gemacht? Es schien ihm jetzt beinahe so, als könne er das Gerät in den Fingern spüren; als könne er fühlen, wie es sich zielbewußt über die Schreibfläche bewegte.
Er runzelte die Stirn, wischte sich geistesabwesend mit dem Handrücken den Schweiß vom Kinn. Kannte er die Methode der Aufzeichnung mittels rasch hingeschriebener Symbole? Wenn nicht, warum verstand er das Konzept? Warum begriff er, daß die Zeichen an den Kisten und Kartons ihren Inhalt kennzeichneten? Rasch riß der Junge eine braune Hülse vom nahen Busch und begann, die Kerne einzeln auszupuhlen, untersuchte sie sorgsam und fütterte den Lenkenden mit Sinneseindrücken. Vor Monaten hatte er gelernt, daß starke Sinnesaktivitäten ein hinreichender Schutz für seine privaten Gedanken waren.
Er roch am weißen Inneren der Hülse, dann holte er einen runden, schwarzen Samen hervor und zerquetschte ihn mit der Zunge. Als er den scharfen Geschmack dem Lenkenden übermittelt und ihn derart abgelenkt hatte, ergriff er mit der linken Hand einen kleinen Stock. Er versuchte, ihn nicht bewußt zu führen, sondern ließ seine Hand sich selbst bewegen. Sie bewegte sich rasch und hinterließ eine Reihe Zeichen auf dem weichen Erdboden. Er warf sich ein zweites Samenkorn in den Mund und ließ seine Hand sich wieder instinktiv bewegen. Dann warf er einen kurzen Blick auf den Boden
Seine Hand hatte keine zufälligen Zeichen gemacht.
Er erkannte in einer brausenden Welle des Triumphes, daß die Linien und Kreise einen Sinn ergaben. Er begutachtete sie mit zusammengekniffenen Augen und fand sogar gewisse Ähnlichkeiten mit den Symbolen auf den zerbrochenen Kisten; vielleicht, wenn es ihm die Zeit erlauben würde, könnte er sogar lernen, sie zu deuten. Irgendwo in seinem Verstand mußte der Schlüssel sein. Denn weshalb sonst hatten seine Hände die Zeichen so bereitwillig gemacht?
Das war ein weiterer Schritt. Wenn er genug Schritte machen konnte, würden sie ihm zweifellos zu Wissen über die violettäugigen Menschen verhelfen, an deren Gesichter er sich erinnerte. Er ließ sich auf die Fersen nieder und rief sich schwach ausgeprägte Lippen und tiefliegende Augen ins Gedächtnis. Es war ein besonderes Gesicht, das Gesicht einer Frau; einer Frau, die ihm Nahrung und Fürsorge gegeben hatte.
Ein unerwarteter Laut unterbrach seine Träumerei. Im Tal hatten die Menschen einen großen Karton aufgebrochen. Sie zerrten leuchtende Seidenbahnen daraus hervor: himmelblau, karmesinrot, chartreuse, smaragdgrün und lila – einen vollständigen seidenen Regenbogen. Es war auch eine einzelne, weiße Seide dabei, gesprenkelt mit Farbtupfern. Die Leute entrollten die Stoffbahnen, indem sie sie in die Luft warfen; das kostbare Tuch flatterte in einer Brise des dunstigen Morgens. Es war unheimlich, denn als der Stoff sich bauschte, gab er mehr von sich als das Rascheln im Wind wehenden Tuchs. Er redete und sang in vielen fremden Sprachen.
Der Junge stand wie gebannt. Es war, als sänge der Regenbogen in klagenden Tönen, klar und sehnsüchtig. Der hinge hob die Hände zu den Ohren und hörte Farbe, süß und rein und einschläfernd.
Die Leute kreischten in wüstem Vergnügen; ihre verhangenen Augen glitzerten. Sie ergriffen die seidenen Stoffbahnen und warfen sie dem Wind entgegen, bis sie wimmerten und stöhnten und seufzten. Dann ergriff ein Mann, der erfinderischer als die anderen war, ein karmesinrotes Tuch und band es an den Ast eines kleinen Baumes. Das freie Ende der Seide flatterte träge in der Brise, und die seidige Stimme wurde zu einer verführerischen Melodie. Flatternd und schwebend wie ein lebendiges Wesen sang die Seide ihr Sirenenlied für die zunehmend faszinierten Leute.
Rasch banden auch die anderen glänzende Bänder in die Bäume und zogen sich zurück, abergläubische Scheu in den wuchtigen Gesichtern. Sie
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