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Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit

Titel: Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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brummten einer zum anderen, als die Seide das kleine Tal mit einer Symphonie der Stimmen erfüllte. Die Brise war feucht und schwer. Dennoch wurden die Seidenbahnen nicht niedergedrückt. Jeder schimmernde Streifen schien in einer unverwechselbaren, Ichhaften Farbe zu sprechen; Licht wurde Musik.
    Der Junge bewegte sich vorwärts, als er das schnaufende Al men der Leute und das entfernte Donnergrollen gewahrte. Der Lenkende war nicht so sehr an den Seiden interessiert, doch der Junge wurde von ihnen magnetisch angezogen.
    Eine der Seiden, die weiße, begann zu sprechen. Nicht mit bebendem Stöhnen, nicht mit verführerischem Seufzen, sondern mit einer festen, markigen, männlichen Stimme. Sie knatterte durch das Tal, knapp, drängend, fordernd, wie die rastlosen Finger des Blitzes, die manchmal in die Wipfel der Bäume fahren. Der Junge blieb stehen, sein Kinn sank herab. Der Schock des Wiedererkennens machte seine Glieder steif.
Diese Stimme …
    Die weiße Seide fuhr mit ihren Erklärungen fort, und es schien, als ärgerten sich die anderen Seiden über ihre Gegenwart. Einer der Leute ging darauf ein, langte in die Höhe und zog heftig an der weißen Seide, indem er zornig vor sich hinmurmelte. Ein anderer riß sogar mit den Fingernägeln an ihr.
    Der Junge war wie betäubt.
Er kannte die Stimme der weißen Seide.
Er wußte nicht, wo und wann er sie gehört hatte, aber sie traf eine Saite des Wiedererkennens. Wenn er ihr allein lauschen könnte, ohne das sich steigernde, wütende Protestgeschrei der Leute und das verdrossene Gejammere der anderen Seiden ...
    Manchmal wurde der Junge vom Lenkenden geleitet, ohne daß er selbst entscheiden konnte; als wäre er ein Geschöpf nach dem Willen des Lenkenden, nicht mehr. Aber diesmal war es sein eigener, nicht des Lenkenden Wille, der den Jungen aus dem Unterholz schießen ließ. Er stürzte quer durch das kleine Tal und schwang sich den Baum hinauf, an dem die weiße Seide flatterte. Seine Finger, feucht von Schweiß, rissen am Knoten, der die Seide hielt. Dann glitt er den Baum hinunter, raffte die Seide um sich zusammen und rannte fort.
    Die Leute waren empört. Sie drängten sich brutal gegen ihn und murrten. Einer der erwachsenen Männer, Ramar, hielt ihn mit einem scharfen Schlag an den Kiefer auf, die verhangenen Augen starr vor Raserei. Der Junge taumelte, fiel beinahe gegen einen zweiten, ebenfalls empörten Mann.
    Aber er fing sich; schaffte es, zwischen den beiden hin-durchzuschlüpfen, und entkam ihnen, als sie einander anschrien. Bevor einer der übrigen ihn fangen konnte, warf er sich ins Unterholz; die weiße Seide, die jetzt still war, fest im Griff.
    Er rannte durchs dichte Gestrüpp, quer durch das trockene Flußbett und zwischen die Bäume jenseits davon. Seine Füße flogen dahin. Niedrig hängende Zweige zerkratzten sein Gesicht und versuchten, nach der weißen Seide zu greifen. Als er lauschend innehielt, war sein magerer Leib feucht vor Schweiß, und er rang heftig nach Atem. Aber er hörte keinen Laut; niemand verfolgte ihn. Er hörte nur den Donner, jetzt näher, deutlicher.
    Noch immer keuchend, befestigte er die weiße Seide an einem Zweig eines jungen Baumes. Seine Finger zitterten, als er begann, den schlüpfrigen Stoff zu glätten, ihn dann freigab und sprechen ließ.
    Die Brise kam zuerst nur zögernd. Dann fing sie die ganze Länge der Seide, hob sie hoch, und der Stoff setzte seine Bittklage fort.
    Der Junge erkannte es jetzt als das. Obwohl die Stimme beißend war, gebietend, bat sie ihn. Der Junge drückte die geballten Fäuste an die Schläfen und versuchte, seine Konzentration zu steigern. Hatte er bereits vorher einmal die Sprache der Seide gehört? Waren ihm Worte und Tonfall vertraut? Rasch beugte er sich vor und riß eine Pflanze aus dem Boden. Er zerquetschte die Blätter und drückte sie gegen die Nase, um seine Gedanken vor dem Lenkenden abzuschirmen. Der Lenkende war nicht erfreut darüber, daß er mit dem Seidenstoff aus dem Tal gerannt war. Fast geistesabwesend berührte der Junge die blutende Wunde, die Ramar ihm zugefügt hatte, als er geflohen war. An seinem Kiefer würde eine Narbe bleiben.
    Das machte nichts.
Wo hatte er diese Stimme zuvor gehört?
Er war sicher, sie hatte damals nicht dieselbe Sprache gesprochen wie jetzt. Die Sprache, die sie jetzt sprach, weckte in ihm keine Erinnerungen.
    Wenn er sich doch nur an die Sprache der violettäugigen Menschen erinnern könnte. Eines Tages würde er es, da war er sicher.

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