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Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit

Titel: Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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hintersten Ende des Tisches Platz. Tiahna saß bereits am Kopf des Tisches; ihr Gesichtsausdruck so entrückt, wie Khiras kühl war.
    Khira starrte sie wortlos an und fragte sich, ob Tiahnas Herz jemals aus Fleisch gewesen war. Tiahna schaute zurück und runzelte leicht die Stirn; ihre Finger spielten unruhig mit dem Paarungsstein. Khira kannte ihr Stirnrunzeln von anderen Vorabendfesten her. Es hatte nichts mit dem Fest zu tun oder den Leuten, die um die Tische saßen. Dieser Blick erschien, wenn die Tage kürzer wurden, wenn Sturmwolken die Sonne versteckten und die Linsenpfleger vom Berg stiegen. Es war ein Anzeichen für den Ruf von den Bergspitzen, wo sie Sonnenlicht finden könnte, selbst im Tod des Winters.
    Der Festsaal war erfüllt mit allen Wohlgerüchen des Mahles: geröstetem Fleisch, frisch gebackenem Brot, allen Arten Gemüse und Früchte; dampfend und auf riesigen Platten serviert. Und die Menschen, die sich selbst von den Platten bedienten, waren glatt und glänzend in ihrem Winterspeck; der Fettschicht, die es ihnen ermöglichte, die Zeit des Winterschlafes zu überleben. Sie lachten und sangen und aßen von allem, was aufgetragen wurde. Dann lachten und sangen sie erneut. Aber unter all dem Gelächter und Gesang herrschte eine andere Stimmung. Einige von ihnen würden im Frühjahr nicht mehr erwachen. Jedes Jahr gab es während des Winterschlafes Tote, und niemand wußte vorher, wer sterben würde. Etwas Dunkles berührte das Fest und ließ das Lachen lauter und ekstatischer werden.
    Am Barohnatisch war es still. Khira starrte versteinert auf ihre Platte. Tiahna blickte finster auf die verschrammte hölzerne Tischplatte. Zwischen ihnen standen sechs leere Stühle – und die Worte, die nie laut ausgesprochen worden waren:
Ich sorge mich.
    Als die Feiernden den ersten Sättigungsgrad erreicht hatten, kamen die Sängerinnen; ältere Frauen, die die Geschichte Brakraths so gut wie ihr eigenes Leben kannten. Sie bewegten sich zwischen den Tischen hin und her und ließen die Ur-Zeiten für die Leute neu entstehen. Als ihre Stimmen sich erhoben, schloß Khira die Augen, und die Steinwände des Saales lösten sich auf. Statt der Menschen, die dort saßen, um zu feiern, sah sie ein großes Schiff am Himmel, das taumelte, auseinanderbrach, abstürzte und seine menschlichen Insassen auf einer rauhen, bergigen Welt stranden ließ
    Brakrath.
    Khira seufzte tief, als das Lied fortgesetzt wurde. Zuerst schauten die Gestrandeten ängstlich zu den Bergen und flehten um Hilfe. Aber nach einer Weile fühlten sie die schützende Kraft der Berge und lernten, in ihren Schatten zu leben. Sie kultivierten den kärglichen Boden des Tales für ihren Unterhalt. Und nach mehreren Generationen, die sich vom Talboden ernährt hatten, vergaßen sie andere Welten und wurden Menschen von Brakrath.
    Und dann, sobald sie Brakrath akzeptiert hatten, begannen sie sich zu verändern. Zuerst waren die Änderungen klein und traten nur vereinzelt auf. Aber sie verbreiteten sich und wurden größer, bis sie jedes Kind betrafen, das geboren wurde; bis sie jeden Erwachsenen formten, der in den Talgemeinden lebte. Die singenden Stimmen wurden zu einem flüsternden Chor. Unter dem Einfluß des Wechsels wurden einige Menschen nach und nach zu einer einheitlichen, neuen Rasse widerstandsfähiger, hellhäutiger Menschen, die ihre kärglichen Lebensmittellager schonten, indem sie den Winter über schliefen.
    Die gesungene Geschichte bewegte sich von diesem Punkt an schneller voran und wurde zu einer Zusammenstellung einzelner Bilder. Die neuen Menschen zerstreuten sich über Brakraths Täler und trieben die Felsleoparden und Schneeminxe in die Berge. Sie errichteten Steinhallen, säten und veränderten die Eigenschaften ihrer Rasse, um Brakraths Anforderungen gerecht zu werden. Weiße Mutterschafe gebaren gescheckte Lämmer. Die Hühner wurden größer und lieferten mehr Fett. Hungrige Menschen wurden satt.
    Dann entdeckten die Menschen in der südlichen Ebene die Rotmähnen, eine Spezies Brakraths mit mächtigen Schultern und kräftigen Hinterteilen und domestizierten sie. Eben zu diesem Zeitpunkt wurde die erste Wächterin aus den Reihen der Talbewohner geboren und ging in die Ebene, um die Aufsicht über die Rotmähnen zu übernehmen. Bald wurden weitere Wächterinnen geboren, stille, dunkle Frauen, die auf Stimmen hörten, die sie immer endgültiger an die Tiere banden, die sie bewachten. Jahrhunderte zogen vorüber, und aus einer Rasse wurden

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