Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
zerknitterten Kleidern und übersättigten Gesichtern. Jetzt blickten sie den Winterträumen mit erwartungsvollen und furchtsamen Augen entgegen. Als die letzten Türen versiegelt waren, zog sich Khira in den Palast zurück. Gewaltige metallene Türen schlossen sich hinter ihr mit kalten Seufzern. Sie schlüpfte über stille Flure zum Thronraum und war sich nicht darüber im klaren, was sie mehr fürchtete; einen Winter mit fremden Träumen – oder einen in Einsamkeit.
Tiahna saß auf dem dunkel glühenden Thron, heute fern, einsam, zeitlos. Khira hielt inne, um sie zu studieren. Manchmal sah sie in ihrer Mutter den großen doppelköpfigen Bergfalken, großartig in Kraft und Gestalt, immer wachsam, immer bereit, hinabzustürzen. Noch wurde einer seiner Köpfe, der kleinere, stumm und machtlos vom anderen im Zaum gehalten. Als Khira heute den Thronsaal betrat, schien Tiahna sie mit derselben gefesselten Wachsamkeit, der gleichen hinfälligen Kraft anzustarren, wie der kleinere Kopf des Falken.
Vielleicht machte Tiahna sich Sorgen?
Oder vielleicht kümmerte sie sich nur um ihren zunehmenden Sonnenhunger und die Verzögerung der Zeremonie, so gering sie auch war.
Khira trat vor den Thron. Mutter und Tochter schauten einander an, der Saal war still. Tiahnas Stimme war ein heiseres Flüstern. »Sind die Steinkasernen jetzt geschlossen?« Der Paarungsstein hing dunkel an ihrem Hals.
Steinkasernen: das war ein archaischer Ausdruck, ein Überbleibsel aus der Zeit, da die Leute aus den Hallen eher Leibeigene als freie Arbeiter waren. Khira befeuchtete in plötzlicher Nervosität ihre Lippen. Heute mußte sie die Rolle spielen, die sonst immer Alzaja an Dunkelmorgen gespielt hatte. Und obwohl niemand anwesend war, es zu hören, keiner, der es sah, schien es für Khira wichtig, daß sie die gleiche Autorität in die Rolle der älteren Tochter legte, wie es Alzaja getan hatte. »Sie sind versiegelt«, antwortete sie.
»Dann ist der Schlafstaub verstreut, und die Menschen träumen.« Tiahna stand auf, ihre Glieder waren lang und gebräunt, die kupferroten Haare zu einer Krone geflochten. Ihre Gesichtszüge waren energisch: ein breiter Mund, die strengen Augenbrauen, die kühne Nase. In jedem Zug war Kraft sichtbar. Als sie durch den Thronsaal schritt, waren ihre Augen dunkel vor Schmerz. »Sie träumen, und so lebt Alzaja wieder für einen Winter.«
Bei diesem Abweichen vom Brauch fröstelte Khira unwillkürlich. Sie schloß die Augen und konnte sich jetzt ihre Schwester neben sich vorstellen, jeder Gesichtszug erschien deutlich. »Alzaja lebt immer in mir«, erklärte sie.
Tiahna wendete Khira ein ernstes Gesicht zu. »Lebt sie? Und Mara, lebt sie auch in dir?«
»Mara auch«, erwiderte Khira fast ohne Verzögerung. Oft hatte Alzaja eine Fingerspitze auf ein vereistes Fenster oder einen beschlagenen Spiegel gelegt und Maras Bild erscheinen lassen. Maras Tod auf dem Berg wurde ein Ereignis, das sie beide teilten, auch wenn Khira Mara nie kennengelernt hatte.
»Mara lebt in dir, aber du hast sie nie gesehen?« hakte Tiahna nach.
»Alzaja erinnerte sich an sie; und sie erzählte mir von ihr.«
»Und Denabar?« fragte Tiahna herausfordernd. »Lebt auch Denabar in dir?«
Diesmal stockte Khira. Denabar war die Schwester vor Mara gewesen. Alzaja hatte versucht, ihre Gesichtszüge wiederzugeben, ihre Eigenarten, ihre kurze Geschichte, so wie Mara sie ihr erzählt hatte. Aber sie war nicht ganz erfolgreich damit gewesen. Khira war sich nie sicher darüber gewesen, wieviel davon Substanz war und wieviel Schatten. »Sie – sie lebt auch.«
Tiahna schaute traurig auf Khira. »Nein, Kind. Du hast Alzaja berührt, ihre Stimme gehört, und sie lebt in dir. Aber bilde dir nicht ein, daß deine anderen Schwestern gleichermaßen in dir leben. Und bilde dir nicht ein, daß, wenn der Berg dich nimmt, du in irgend jemandem leben wirst, außer in deiner nächsten Schwester, und dann auch nur für die Zeitspanne, die sie lebt.«
Khira trat einen Schritt zurück, als hätte man sie geschlagen. »Nein«, flüsterte sie, im Zweifel darüber, wem sie widersprach: der herannahenden Einsamkeit, dem Verlust ihrer Schwestern – oder ihrem Tod, den ihre Mutter so beiläufig erwähnt hatte.
Tiahna runzelte die Stirn, drehte sich um und schaute hilflos in die trüben Spiegel, die in Abständen ringsum im
'Thronsaal hingen. Sie berührte ihre schmerzhaft pochenden Schläfen. »Gegen die Linsen an der Bergseite hat sich Schnee gehäuft, und die
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