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Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit

Titel: Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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entsetzt. Wer war er denn, daß er versuchte, sein eigenes Verhalten zu bestimmen? Das Mädchen besaß wenigstens einen Namen – Khira. Soweit er wußte, hatte er keinen. Oder wenn er einen hatte, konnte er sich nicht mehr an ihn erinnern, so sehr er sich auch bemühte. Und manchmal bemühte er sich sehr.
    Schriftrollen zu entziffern, wurde bald zu einer seiner Lieblingsbeschäftigungen. Die Rollen lagerten in einem Alkoven hinter dem Thron. Sie waren aus feingekörnten Häuten gefertigt und mit in Tusche gezeichneten Symbolen beschrieben. Der Junge genoß es besonders, an kalten Abenden neben Khira zu sitzen, den Symbolen mit dem Finger zu folgen und dann deren Bedeutung zu wiederholen.
    Die Rollen erzählten die Geschichte der Welt Khiras, Brakrath. Khiras Vorfahren waren vor hundert Jahrhunderten oder mehr nach Brakrath gekommen – er versuchte, diese Zeitspanne in ein Verhältnis mit den wenigen Tagen seines Lebens zu setzen, an die er sich erinnern konnte; ihm wurde schwindelig davon – diesmal nicht absichtlich. Sie waren äußerlich für einen anderen Bestimmungsort vorgesehen gewesen, als ihr Schiff versagte und sie hier strandeten.
    Sie hatten Brakrath kalt und unwirtlich angetroffen. Jahrhundertelang kämpften sie darum, seine Winterstürme und die kurzen Sommer zu überleben, während sie auf Rettung warteten. Aber sie kam nicht; und nach einer Weile vergaßen sie das Warten und begannen, sich Brakrath anzupassen. Die Schriftrollen sprachen von Veränderungen, die mit ihnen vorgingen. Sie berichteten von Menschen, die lernten, sich für die Winterzeit zu mästen und während der Schneefälle in verriegelten Hallen zu schlafen. Sie erzählten von Leuten, die lernten, auf die Stimmen von Brakraths Bergen zu achten und von anderen, die in die entfernten Ebenen zogen. Sie sprachen von den großen Rotmähnenherden, die sie dort vorfanden, und von den Frauen, die zu ihren Wärterinnen wurden. Sie erzählten von anderen Frauen, Töchtern der Wächterinnen, die aus Blöcken schwarzen Gesteins in den Bergen Fähigkeiten entfesselten, von denen sie vorher nie geträumt hatten. Khira stammte von diesen Frauen ab, den Barohnas von Brakrath.
    Khira war nie wütend oder traurig, während sie die Schriftrollen entzifferten. Ihre Finger flogen über die Tuschesymbole, und ihre Stimme war voll Begeisterung. Wenn sie darin vertieft war, schien sie nicht genau einschätzen zu können, wie rasch der Junge lernte, die Schriftrollen mit ihr zu entziffern. Fast mit Sicherheit hatte sie nie zuvor jemandem etwas beigebracht.
    Oft saßen sie, nachdem sie mit dem Entziffern aufgehört hatten, beisammen und sprachen stundenlang miteinander. Khira erzählte dem Jungen von den Menschen des Tales, von ihren Schwestern, den Bergen, die sie liebte, und den Ebenen, die sie zuweilen besuchte. Sie berichtete ihm von den Feiern und Festlichkeiten, die den Dunkelmorgen einleiteten, dem ersten Tag des Winters, wenn die Hallen verriegelt wurden und der Schlafstaub verstreut wurde. Sie erzählte ihm von den Lämmern, die geboren wurden, wenn die Schafe aus dem Winterschlaf erwachten. Sie erzählte ihm von Frühlingstagen, wenn Gruppen von Rotmähnen mit ihren Wächterinnen ins Tal kamen und die Felder pflügten. Sie erzählte ihm die ganze Sage ihrer Schwestern; und während sie redete, schienen sie wieder lebendig zu werden.
    Selten sprach sie von ihrer Mutter. Er hatte keine Erinnerung an eine Mutter, so daß er sich nicht darüber wunderte.
    Tatsächlich gab es nichts, das er ihr als Gegenleistung hätte erzählen können. Er hatte kein Volk, keine Welt, keine Erinnerungen. Er hatte nichts außer den Gesichtern seiner Brüder, an die er sich nicht erinnern konnte. Manchmal hielt sie in ihren Erzählungen inne und warf ihm eine Frage hin. »Sammeln die Kinder dort, wo du herkommst, die Früchte des Sommers? Oder überlassen sie es den Erwachsenen, sie einzubringen?« Und er konnte nicht antworten. Er hatte nie eine Festtagsküche gerochen, nie Tiere beim Weiden beaufsichtigt, hatte niemals Samen in ein Feld gesenkt und das Sprießen der Pflanzen gesehen. Oder, wenn er es doch hatte, war etwas ohne Erinnerung an diese Dinge geschehen.
    Statt der Erinnerungen hatte er den Lenkenden. Er wurde zunehmend widerspenstiger unter der Herrschaft des Lenkenden. Warum sollte er sich fügen, wenn Khira sich niemandem fügen mußte? Und dennoch war Widerstand zur Zeit zwecklos. Wann immer der Lenkende es für angebracht hielt, konnte er durch den Mund des

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