Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit

Titel: Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
Vom Netzwerk:
ausprobierte, konnte er ungehindert arbeiten.
    Diese Erkenntnis gab dem Jungen eine erste Andeutung von Individualität und Absicht, die getrennt von denen seil» Lenkenden waren. Er begann insgeheim, das Mädchen zu beobachten, und fragte sich bald, warum er einen Lenkanden besaß, da sie doch keinen zu haben schien. Sie schien zu tun, was ihr Spaß machte, ohne irgendeine innere Führung.
    An diesem Punkt machte der Junge eine Veränderung zum inneren Widerstand gegen seinen Lenkenden durch. Nun wurde er sich unangenehm seiner Abhängigkeit von Ihm bewußt. Schon bald nach seiner Ankunft im Palast hatte der Junge gelernt, daß sich tief im Ödland seines Verstandes ein Ort der Wärme und freundlicher Aufnahme befand. Das war der Tranceraum; und in diesem Tranceraume lebten seine Brüder.
    War der Tranceraum irgendwo eine physikalische Realität gewesen? Hatte er dort seine Brüder getroffen, bevor er in den Palast gekommen war? Er konnte sich an nichts erinnern. Jetzt war der Tranceraum ein Ort in seinem Verstand. Wann immer der Junge müde oder verwirrt war, sehnte er Fach danach, dort zu sein; doch nur der Lenkende konnte die Tür öffnen. Jeden Abend nahm der Junge seinen Platz vor der Tranceraumtür ein, indem er die Stirn auf den Knien ruhen ließ und damit anfing, eine Reihe langsamer und tiefer Atemzüge zu machen. Aber er wußte genau: wenn er das Mißfallen seines Lenkenden erregt hatte, wenn der Lenkende ihn nicht in Trance fallen lassen wollte, würde er sich statt dessen hastig atmend wiederfinden, und die Türe würde nicht geöffnet. Er würde verbittert, kalt und allein zurückgelassen. Völlig allein.
    Es war nach einer solchen unangenehmen Situation – der ersten –, als der Junge erkannte, daß auch das Mädchen einsam war. Er hatte sich an diesem Nachmittag zu lange in der Küche aufgehalten, hatte Schubladen mit Utensilien durchforscht und sich den Instruktionen seines Führers, er solle mit dem Mädchen Brettspiele machen, widersetzt. Zweimal war sie zu ihm gekommen. Das erstemal ging sie mit besorgtem Stirnrunzeln fort, das zweitemal mit wütend Tränen. Beide Male hatte der Junge seine Bestandsaufnahme von den Küchenschubläden fortgesetzt, ohne heftige Gewissensbisse zu empfinden.
    Aber als er sich an diesem Abend in den Winkel des Thronsaales zurückzog, wo er in Trance zu fallen pflegte, verweigerte ihm der Lenkende den Tranceraum. Der Junge legte die Stirn auf die Knie und versuchte, langsam und ruhig zu atmen. Doch statt dessen atmete er so heftig, daß schwindelig wurde. Er hob den Kopf und schaute blind herum, dann ließ er den Kopf erneut fallen. Diesmal regulierte er seine Atmung mit gewissenhafter Vorsicht; er hörte seinen Atem stoßweise, in seinem Brustkorb rumorte es. Sein Herz begann zu hämmern, und als er aufsprang, schwankte er heftig, und ihm war übel.
    Schließlich gab er es auf, saß dort zitternd und hellwach und starrte leer in die dunklen Spiegel, die in Abständen ringsum an den Wänden hingen. Der Palast war nachts kalt und er war hungrig nach dem Trost, den ihm die Gesellschaft seiner Brüder gab, hungrig nach dem Klang ihrer Stimmen, der Wärme ihrer Gesichter. Er grübelte trau darüber nach. War er mit ihnen zusammen gewesen, bevor er hierher gekommen war? Und wo? Würde er eines Tages zu ihnen zurückkehren? Obwohl er jeden Abend den Tranceraum betrat, konnte er sich, wenn er zurückkam, nie deutlich daran erinnern, was er und seine Brüder dort getan hatten und was zwischen ihnen gesprochen worden war. Au an ihre Gesichter konnte er sich nicht erinnern, aber er wußte, sie mußten wie das seine sein. Seufzend starrte er in dunklen Spiegel. Das einzige Gesicht, das er sah, war seins.
    Die Kälte der Einsamkeit war stark, als das Mädchen sic näherte und vor ihm niederkniete. Ihr kastanienbraun Haar fiel zwischen sie. Ihr Gesicht lag im Schatten, und berührte versuchsweise seine Schultern. »Du gehst wie schlafen, nicht wahr?« fragte sie drängend in der Mischung aus Schüchternheit und gekränktem Zorn, die sie manch mal an sich hatte. »Jeden Abend, nachdem wir gegessen haben, sitzt du hier und schläfst. Nie sprichst du abends mit mir.«
    Der Junge sah voller Überraschung zu ihr hoch. Es war ihm nie klargeworden, daß sie seinen sitzenden Körper bemerkt hatte, während er in Trance war. In ihren Augenwinkeln waren Tränenspuren zu sehen. Das und der klägliche Zorn berührten ihn. Anscheinend fühlte sie sich ebenso wie er: einsam, wütend, hilflos.

Weitere Kostenlose Bücher