Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
beeinflussen konnte, außer den Jungen, soweit es den Jungen anging, war der Lenkende allwissend und allmächtig. Er war eine Gewalt, der man ohne Fragen gehorchen mußte.
Es gab einige Dinge im Palast, die der Junge anderen vorzog.
Vor allem genoß er es, sich in der Küche aufzuhalten, weil es dort Brot und den warmen Herd gab. Aber bald bot die Küche ihm mehr als nur leibliche Genüsse. In einer Weise, die er nicht zu beschreiben vermochte, bot sie ihm Erinnerung. Jeden Tag ging der Junge dorthin und erforschte die langen Regale mit Eingemachtem. Dann erkundete er das innere des kalten Kastens, wo Brathühner in Eisblöcken aufbewahrt wurden, und untersuchte Schubladen mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs, Gefäßen und Werkzeugen. Aus all diesen Sachen entnahm er die Bedingungen eines Lebens, das sich in die Vergangenheit ebenso wie in tue Zukunft ausdehnte. Der Junge liebte es, die hölzernen Griffe der Messer zu streicheln und schloß aus ihnen auf die Anwesenheit von Menschen, die, so stellte er sich vor, sie benutzt hatten. Die großen Kochtöpfe, die an Wandhaken hingen, waren eingebeult und verkratzt. Er hatte seine Freude daran, sie auf den kalten Herd zu setzen und sich vorzustellen, er höre das Schaben geschnitzter Löffel und das zufriedene Brodeln wohlschmeckender, dicker Speisen.
Diese Empfindungen waren sein einziger Anhaltspunkt ihr eine persönliche Existenzspanne aus einer Zeit, bevor er sich auf den Stufen des Wachturms wiedergefunden hatte.
Die Gewürze und Kräuter wurden rasch zu seiner besonderen Freude. Dutzende von ihnen waren in kleinen Flaschen untergebracht, die alle die gleiche Größe und Form hatten. Sie füllten ein ganzes Bord, und ihr Inhalt war je nachdem wohlriechend, beißend, modrig, bitter, süß. Nachdem er sein Vergnügen daran entdeckt hatte, ging der Ringe nie ans Gewürzbord, wenn er nicht genügend Zeit hatte, jede der Flaschen der Reihe nach zu öffnen und den Inhalt zu kosten. Die meisten Gewürze waren gemahlen, aber einige der Flaschen enthielten auch lose, getrocknete Blätter, und fünf von ihnen beinhalteten Samen.
Es befriedigte ihn, die Gefäße auf dem Bord zu ordnen und umzuordnen, so wie es ihrem Inhalt angemessen war. Nach einigen Tagen hatte er eine Anordnung für die Flaschen ausgearbeitet, die eine Staffelung vom mildesten bis hin zum stärksten Gewürz darstellte, entsprechend den verschiedenen Bereichen der Intensität und passend geordnet nach dem Wesen des Geschmacks: süß, sauer, bitter und so weiter. Nachdem er die Küche betreten hatte, trug er Flaschen vom Bord zum langen Arbeitstisch. Er mochte den Tisch, da er Narben vom langjährigen Gebrauch aufwies. konnte die Kerben betasten und die Schläge der Hackmesser hören, vielleicht nicht hier im Palast, aber anderswo – einem Ort, an den er sich nicht einmal erinnern konnte. Endlich waren die Gewürze zu einer langen Reihe aufgestellt, und er probierte sie mit Muße, eins nach dem anderen, manchmal wahllos, manchmal nach einer festgesetzt Ordnung. Dann stellte er sie auf ihr Bord zurück, Gefäß für Gefäß, und ordnete sie sorgfältig.
Zuerst drängte ihn der Lenkende, in der Küche zu arbeiten. Doch dann war sein Werk dort getan, und der Lenkende wurde ungeduldig. Es gab viel zu lernen, und der Junge verschwendete Zeit. Als sein Lenkender zum erste Mal Einspruch gegen das ausgedehnte Probieren am Gewürzbord erhob, ließ der Junge zu, dieser befriedigende Tätigkeit enthoben zu werden. Für eine Weile ging er nur einmal am Tage zu den Gewürzborden, um aus den Flaschen zu probieren und sie zu sortieren.
Doch eines Tages machte er eine überraschende Entdeckung. Er fand heraus, daß, wenn er sich sehr intensiv mi den Gewürzen und Kräutern beschäftigte, so daß sie sein Sinne durchtränkten, sein Lenkender zu sehr davon in Anspruch genommen wurde, die eingehenden Daten zu ordnen, um den Jungen von seiner Tätigkeit wegzuführen. Offenbar konnte der Lenkende bestimmte Tätigkeiten nicht miteinander verknüpfen, und der Junge hatte eine Methode entdeckt, Sinneseindrücke zu unterscheiden, die andere überlagerten. In den nächsten Tagen stellte der Junge Versuche darüber an und fand heraus, daß bestimmte Kräuter auf seinen Lenkenden sehr verwirrend wirkten. Ihre Aromen waren derart vielfältig, daß sie den Lenkenden vollkommen überwältigten. Wenn der Junge an diesen Flaschen abwechselnd schmeckte und roch und zwischendurch die anderen, weniger verwirrenden Flaschen
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