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Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit

Titel: Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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»Ich habe heute mit dir gesprochen«, sagte er schließlich, nicht sicher, ob er das Richtige gesagt hatte.
    »Du hast dich heute morgen mit mir unterhalten. Heute nachmittag, als ich dich zum Spielen holen wollte, hast du mich nicht gehört. Du hast so getan, als wäre ich nicht vorhanden.« Ärgerlich rieb sie sich die Augen.
    »Ich – ich war beschäftigt«, sagte er stockend, und wunderte sich, wie er sie zweimal ohne Gewissensbisse hatte ortschicken können. Sie hatte ihn den ganzen Morgen forschen lassen, obwohl die Spiele für sie wichtig waren.
    »Du sprichst morgens mit mir«, fuhr sie fort. »Aber abends sitzt du hier, die Stirn auf den Knien und mit kaltem Gesicht. Es ist egal, wie heftig ich dich auch schüttele, ich kriege dich nicht wach. Immer läßt du mich abends allein.«
    »Du schüttelst mich?« Die Vorstellung überraschte ihn. Er war sich nie ihrer Gegenwart bewußt gewesen, wenn er in Trance war. Stets war sie in ihrem Zimmer, wenn er aus dem Tranceraum zurückkehrte und durch die kalten Hallen zu seinem Bett ging. Er hatte sich auch niemals gefragt, wie sie die Abende verbrachte. »Ich schüttle dich, bis deine Zähne klappern«, sagte sie in traurigem Ton. »Und ich bringe dir Essen, aber du nimmst es nie an. Hier ...« Sie förderte ein reichliches Stück Fruchtbrot aus einer gefalteten Stofftasche. »Wenigstens bist du heute abend aufgewacht. Iß es.«
    Gerührt befeuchtete er seine Lippen mit der Zungenspitze.
    Etwas leuchtete in ihren Augen auf, als er das Brot nahm: gekränktes Aufblitzen durch frische Tränen hindurch. »Du könntest mir die Hälfte anbieten«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme.
    Er fühlte ihre Einsamkeit. Er starrte in ihre bittenden Augen, und bevor ihr Ärger wieder die Oberhand gewinnen konnte, brach er das Brotstück in zwei Teile und hielt ihr die Hälfte hin. Sie war allein in diesem Palast und hatte nicht einmal Brüder, mit denen sie in der Trance zusammensein konnte. Die Schwestern, von denen sie gesprochen hatte, waren tot und wurden betrauert. Sie hatte nur ihn.
    Sie nahm sein Brot mit zögernder Vorsicht an. An diese Abend spielten sie die Brettspiele, die er am Nachmittag abgelehnt hatte, und er fand Vergnügen daran, weil es ihr half, ihre Einsamkeit zu vergessen. Andererseits halfen sie ihm, die Tür zum Tranceraum zu vergessen, die sich geweigert hatte, vor ihm aufzugehen. Spät am Abend gingen sie gemeinsam die kalten Flure hinunter, und bevor sie sich trennten, berührten sich ihre Hände und hielten sich fest. Der Junge ging zu Bett, die Wärme ihrer Finger noch an seinen.
    Das, erkannte er, war die Wärme, die er jeden Abend fühlen konnte. Er mußte nicht darauf warten, daß der Lenkende eine innere Tür für ihn öffnete. Und später, wenn er seine Abende mit dem Mädchen statt im Tranceraum verbrachte, könnte er sich an das erinnern, was passiert war, was gesagt worden war.
    War er untreu seinen Brüdern gegenüber? Grübelnd lag er im Bett. Vielleicht, wenn er sich an ihre Gesichter erinnern könnte; wenn er sich ins Gedächtnis zurückrufen könnte, ob sie sich jemals außerhalb des Tranceraumes getroffen hatten – aber er erinnerte sich an nichts und schlief schließlich ein.
    Seit diesem Abend wurde er sich einer zunehmenden Spannung zwischen ihm und dem Lenkenden bewußt. Es war für den Jungen notwendig, das Mädchen zufriedenzustellen. Aber sein Lenkender betrachtete es nicht als notwendig, daß er Vergnügen darin fand, ihr zu gefallen. Angeblich konnte ihm nur der Lenkende Vergnügen gewähren.
    Der Lenkende fühlte sich unbehaglich, wenn der Junge mit dem Mädchen durch die Hallen rannte; eben weil sich das Rennen und Lachen gut anfühlte. Er wurde unruhig, wenn der Junge und das Mädchen sich gemeinsam über die geheimnisvollen Schriftrollen beugten, und der Junge die Wärme des Körpers neben sich genoß. Er wurde unruhig, wenn der Junge das Mädchen anlächelte, weil es ihm Spaß machte.
    Dennoch fuhr der Junge fort, Freude aus dem Zusammensein mit dem Mädchen zu ziehen; sogar dann, als er wußte, daß sein Lenkender ihm später den Tranceraum verweigern würde. Der Tranceraum wurde einfach weniger wichtig für ihn. Manchmal verbrachte er Tage, ohne an seine Brüder zu denken.
    Tatsächlich probierte der Junge jetzt Dinge aus, an die er vorher niemals gedacht hätte. Tagsüber freute er sich an der Gesellschaft des Mädchens und nahm keine Notiz von dem Unbehagen des Lenkenden. Doch manchmal erwachte er des Nachts und war

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