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Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit

Titel: Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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leiten, bevor Khira ihm (ihnen beiden?) Brakrathisch beigebracht hatte. Besaßen er und sein Lenkender eine eigene Sprache? Wie viele sonst sprachen sie? Oder existierte sie nur, um ihnen beiden zu dienen? Es machte den Jungen wütend, daß er nichts wußte; sich nicht erinnern konnte.
    Der Raum, in den der Lenker gegangen war – waren dort Erinnerungen versteckt, die einmal dem Jungen gehört hatten? Khira besaß Erinnerungen. Bestimmt hatte der Junge auch welche: Orte, die er gesehen, Menschen, die er gekannt, und Erfahrungen, die er gemacht hatte. Vielleicht erinnerte er sich sogar an eine Zeit, da der Lenkende noch nicht bei ihm und er frei gewesen war. Wenn er allein den Weg zu dem Ort, wohin der Lenkende gegangen war, finden könnte, wenn er den Schlüssel finden könnte und da Wissen dort erschließen, wenn er einen Weg finden könnt den Lenkenden aus seinem Verstand auszuschließen ...
    Ohne mit den Gedanken dabei zu sein, riß der Junge einen Lampenstiel aus und schlitzte ihn mit dem Daumennagel auf. Er untersuchte aufmerksam die innere Struktur des Stengels, dann probierte er mit der Zunge den bitteren Saft und schirmte so die Gedanken vor dem Lenkenden ab. Der Ort, zu dem der Lenkende gegangen war, wo Informationen lagerten ... Aber er besaß keine Vorstellung davon, wie er diesen Ort finden konnte.
    Noch konnte er die Frage nicht vergessen:
Wer war der Lenkende?
Während der Tag verging, wanderte er aufgewühlt durch den Palast und überschüttete den Lenkenden mit Sinnesdaten zum Schutz seiner eigenen Gedanken. Die Mühe hatte nichts zur Folge als ein zunehmendes Gefühl der Sinnlosigkeit. Sein Bewußtsein schien ein einziger kleiner Raum zu sein, mit verschlossenen Türen an allen Seiten. Einige davon mußten zu seiner Vergangenheit führen, manche mußten Erinnerungen an die Zeit, als er noch keinen Lenkenden gehabt hatte, verbergen. Aber er konnte sich nicht einmal hinsetzen und die Gedanken sondieren. Er mußte fortfahren, sich zu bewegen, zu berühren, riechen, schmecken.
    Türen ... Der Lenkende wurde zunehmend nervöser unter dem Hagel von Sinnesempfindungen. Der Junge schritt weiter, zur Küche, zu den Gewürzflaschen, sich undeutlich Khiras bewußt, die ihm ängstlich überallhin folgte.
    Es gab nur eine Tür, von der der Junge wußte, daß er sie öffnen konnte; die Tür zum Tranceraum. Und sein Lenkender hatte die letzte Kontrolle über diese Tür. Wer kontrollierte die anderen Türen; die Türen, die aus den engen Bereichen des Bewußtseins führten? Der Junge seufzte schwer, ermattet und verwirrt. An diesem Abend saß er nach dem Abendessen in einer Ecke des Thronsaales und wartete darauf, daß Khira aus ihrem Zimmer herunter käme. Er hatte einen Grad der Erschöpfung erreicht, der seinen Gedanken weder Gehalt noch Richtung gestattete. Kopf und Schultern schmerzten ihn. Er saß auf einem Daunenkissen, sein Kopf ruhte gegen die geglättete Steinwand gelehnt, seine Augenlider waren schwer . Er hatte den ganzen Nachmittag über gefragt und keine Antwort gefunden. Oberhaupt keine.
    Als er zuerst die Stimmen seiner Brüder hörte, seufzte er vor Erleichterung und ließ die Augen zufallen. Wenigstens würde er im Tranceraum weder müde noch verwirrt sein. Er würde sich in der Gemeinschaft seiner Brüder erwärmen. Mit einem neuerlichen tiefen Seufzer verlangsamte er die Atmung und griff nach dem Vergessen.
    Dann riß er die Augen wieder auf. Er
hörte das Lachen seiner Brüder, doch er hatte sie nicht gerufen.
Er blickte sich im leeren Thronsaal um. Selbst als seine Augen offen waren, ertönten die Stimmen seiner Brüder noch in ihm. Bestürzt ließ er die Augen wieder zufallen – und sah die Tür des Tranceraumes. Sie stand offen. Er erkannte die Gesichter seiner Brüder im Schein des Lichts, das den Tranceraum stets erwärmte. Sie lächelten, winkten ihm zu, all die Gesichter, die wie das seine waren. Einige waren jung, fast noch Säuglinge. Andere waren älter. Einige waren bereits Männer, lächelnde Männer – sie riefen ihn.
    Er schüttelte verwirrt den Kopf. Sie riefen ihn –
sie riefen ihn beim Namen.
Er horchte aufmerksam, versuchte, den Namen, mit dem sie ihn riefen, zu verstehen. Aber er konnte die getrennten Silben nicht zu einem Ganzen zusammensetzen.
    Sie kannten seinen Namen –
es war auch ihr Name. Und ihre Stimmen. Er schritt der Tür entgegen und griff nach ihnen. Bevor er eintreten konnte, beugte sich Khira über ihn. Er hatte sie nicht einmal herankommen hören.

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