Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
»Dunkeljunge?«
Dunkeljunge. Aber das war nicht der Name. Stöhnend kämpfte er gegen Khiras störende Stimme an. Die Tür war so nah. Seine Brüder ...
Khiras Stimme wurde nun deutlicher, besorgt. »Dunkeljunge.« Etwas von ihrer Sorge traf auf sein verwirrtes Bewußtsein. Die Tür war offen, seine Brüder riefen ihn, ihre Gesichter –
Warum stand die Tür jetzt offen?
Er hatte sei Stirn nicht auf die Knie gelegt. Er hatte seine Atmung reguliert. Warum bot ihm sein Lenkender jetzt den Tranceraum an?
Um ihn zu belohnen? Obwohl sein Lenkender zornig über seine Abschirmung war?
Der Junge tat einen tiefen, seufzenden Atemzug und zwang seine Augenlider, sich zu öffnen. Sein Kopf war nach vorne gefallen. Sein Kinn ruhte auf dem Brustkorb. Er hob es, als wäre es ein großes Gewicht. Er konnte noch die Stimmen seiner Brüder hören, die seinen Namen riefen.
Seinen schwerverständlichen Namen ...
Khiras Augen flehten. »Ich dachte mir, wir würden gehen, um Magische Quadrate zu spielen, Dunkeljunge.«
Verzweifelt kämpfte er sich vom Bann des Tranceraum frei. »Mein Name ...« Er sprach schwach durch die zu rückweichenden, murmelnden Stimmen seiner Brüder.
Khira berührte beunruhigt seine Schultern. »Ich kenn deinen Namen nicht – nicht deinen wirklichen Namen.«
Er kannte ihn auch nicht. Die Stimmen seiner Brüder verblaßten. Sie waren kaum noch vernehmbar. Der Jung schaute zu Khira empor. »Er dachte, er könnte mich ablenken«, sagte er langsam, die Wahrheit seiner Wahrnehmung überprüfend. »Er dachte, er könnte eine Tür öffnen und mich die anderen vergessen machen.« Sein Lenkender versuchte, das gleiche Spiel mit ihm zu spielen, das er mit seinem Lenkenden gespielt hatte.
Aber es war fehlgeschlagen. Gerade als der Junge in Khiras verständnislose Augen blickte, ging die Tür des Tranceraumes zu und schloß das Licht aus, das von seinen Brüdern kam. Der Junge seufzte tief. Das Licht war fort, und er war zu einem Schatten geworden – ausgestoßen durch seinen eigenen Willen.
Khira hatte ihm den richtigen Namen gegeben. Er war ein Schattenkind, ein Kind der Dunkelheit. Erschöpfung erfaßte ihn ganz plötzlich. »Ich bin müde«, sagte er. Wann war er jemals zuvor so müde gewesen?
Khira ergriff seine Hand. Ihre Zuneigung war unmittelbar Und von Kummer gefärbt. »Es tut mir leid.«
Der Junge blickte zu ihr auf. Seine Brüder waren ihm Trost und Labsal gewesen. Sie aufzugeben, war undenkbar. Aber zuzulassen, daß der Lenkende sie gegen ihn benutzte, um so die Herrschaft über ihn aufrecht zu erhalten, war ebenfalls undenkbar. Wenn Khira ihn nicht zurückgerufen hätte, wäre er in den Tranceraum getreten und in die Falle seines Lenkenden getappt. In ihrer Einsamkeit hatte sie ihn zurückgerissen.
Er mußte auch einsam bleiben, erkannte er. Er mußte den Trost, den ihm die Gesellschaft seiner Brüder gab, aufgeben, wenn er Antworten auf seine Fragen finden wollte und die Leere ausfüllen, die irgend jemand oder irgend etwas in seinem Verstand verursacht hatte. Er sprach mit großer Mühe, seufzend. »Möchtest du Magische Quadrate spielen?« Er könnte während des Spiels nicht denken. Aber solange er durch die Tätigkeit in Anspruch genommen wurde, könnte der Lenkende ihn nicht in den Tranceraum locken.
»Möchtest du?«
»Ja. Ich möchte.« Er stand steif auf und ging auf das mit Intarsienarbeiten verzierte Brett zu. Er zwang sich, die geschnitzten Teile auf ihren Plätzen aufzustellen. Heute hatte er eine Menge gelernt. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er einen Lenkenden als allwissend und allmächtig angesehen und ihm die völlige Herrschaft über seinen Willen erlaubt. Jetzt beanspruchte er seinen eigenen Willen, wenn es auch weh tat.
Und mit dem Anspruch war er die Person geworden, die Khira bereits getauft hatte – Dunkeljunge, Kind der Schatten.
6 Khira
Zwei Nächte, nachdem Dunkeljunge den westlichen Flügel entdeckt hatte, wurde Khira durch einen schrillen, metallischen Schrei geweckt, der durch den ruhigen Palast half Sie kämpfte sich aus dem Schlaf – jeder Muskel verkrampft - und wartete angespannt, daß sich der Ton zu dem schrecklichen, metallischen Kreischen steigern würde, Dunkeljunges Ankunft begleitet hatte. Statt dessen nahm der Ton rasch ab und verebbte zum Schrei eines Arnimischiffes, das durch die Schneeverwehungen tauchte, um auf der westlichen Plaza zu landen.
Khiras rasender Puls hatte sich kaum wieder normalisie als Dunkeljunge an der Türöffnung
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