Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit

Titel: Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
Vom Netzwerk:
durch die hallenden Flure, bis ihre Bauch schmerzten, bis ihr Verstand betäubt war. Dann rannte auf ihr Zimmer und warf sich schluchzend auf die Bettkissen. Der Winter endete, wie er begonnen hatte, mit Schnee und Tränen.
     

 

9 Dunkeljunge
    Es war früher Morgen, und die oberen Flure des Palastes waren von einer gespenstischen Leere erfüllt, als warteten die Steine in dumpfer Stille auf die Barohna. Dunkeljunge ging bedächtig den Flur entlang. Diese gelassene Gangart war einer der Tricks, die er beherrschte, seit Khira den Lenkenden im Wachturm eingeschlossen hatte. Diese Erfahrung hatte den Lenkenden in einen Zustand höchster Unruhe versetzt, jetzt war er Kompromissen zugänglich. Dunkeljunge hatte begriffen, daß er gehen konnte, wohin er wollte, solange er den Lenkenden nicht reizte, indem er mutwillig durch den Palast eilte, zu geschwind für den Lenkenden, als daß er Richtung oder Absicht hätte erkennen können; daß er erforschen konnte, was ihn interessierte, und ignorieren, was ihn nicht interessierte, solange er seine Gedanken nicht vor dem Lenkenden abschirmte, solange er Abstand nahm von Fragen, die den Lenkenden beunruhigten.
    Im großen und ganzen gefiel Dunkeljunge das Gleichgewicht der Kräfte, das sich bei ihnen eingependelt hatte. Aber manchmal waren die Kompromisse unbefriedigend, und heute war eine derartige Begebenheit. Dunkeljunge blieb außerhalb der Druckerei stehen. Er war hier oft in den vergangenen Tagen gewesen, zwischen den Tischen umhergelaufen, an denen in der warmen Jahreszeit Schreiber Rollen beschrifteten. Es schien ihm, als zögen ihn verschüttete Erinnerungen hierher. Wann immer er an den Druckraum dachte, an Pergament, Feder und Tusche, zogen sich seine Finger unwillkürlich zusammen, als schlössen sie sich um den Kiel einer Feder. Und sein Atem beschleunigte sich, rief ein aufgeregtes Flattern in seiner Kehle hervor. Er glaubte zu wissen, was das bedeutete: daß er irgendwann zuvor eine Feder in die Hand genommen hatte ... und seine Hand brannte darauf, wieder zu schreiben, in Tusche ausgeführte Zeichen entstehen zu lassen, die Geschichten erzähle würden, an die nur seine Finger sich erinnerten.
    Genau diese Geschichten waren es, über die der Lenkende nicht nachdenken wollte. Stirnrunzelnd ignorierte Dunkeljunge die Verwirrung des Lenkenden, stieß die Tür auf und betrat den Druckraum. Er war kalt und roch nach bitterer Tusche. Dunkeljunge hielt inne, schnupperte den charakteristischen Geruch. Dann bewegte er sich gemächlich durch den Raum. Auf jedem der langen Tische lag ein Sortiment von Schriftrollen, die abgeschrieben werden sollten. Einige der älteren Rollen waren so brüchig, daß Dunkeljunge sie kaum zu berühren wagte. Andere waren weich und geschmeidig. Vorsichtig entrollte er ein Pergament, das er vorher noch nicht untersucht hatte.
    Es war ein Bericht aus früheren Zeiten, eine Geschichte über Schafe, die sich verirrt hatten, und einen Hirten, der bei der Suche nach ihnen auf ein Tier stieß, wie es niemand zuvor gesehen hatte und das in einem Bergweiher lebte. Dunkeljunge streichelte das Pergament, als ob er die Zeit des Hirten mit forschenden Fingerspitzen berühren könnte. Die frühen Rollen machten ihn begierig auf die Welt jenseits des Palastes. Berge, Wiesen, Ebenen – er hatte nie Wasser gekostet, das frisch aus einer Talquelle geschöpft worden war. Er war nie auf einen Hang gestiegen und hatte über eingedämmte Felder zurückgeschaut. Und er besaß eine starke, empfindsame Neugierde. Er wollte die Strukturen aller Steinarten mit seinen Fingerspitzen aufnehmen. Er wollte Terlath im Wandel der Jahreszeiten sehen. Die Wirkungen des Tageslichtes waren für ihn wichtig. Das Dräuen der Sturmwolken über dem Tal, die Muster von Regen und Schnee – auf all das war er hungrig. Hunderte von Erfahrungen erwarteten ihn jenseits des Palastes, und jede würde ihn einiges über die Menschen, die hier lebten, lehren; wie sie gewesen waren; wie sie geworden waren, wie sie jetzt waren.
    Aber er hatte einen unmittelbaren Drang: eine Feder zu ergreifen, sie in die Tusche zu tauchen und seine Hände mit gelockerten Zügeln über das unbeschriebene Pergament gleiten zu lassen. Als er jedoch zur Feder griff, verkrümmten sich seine Hände zu Klauen, und er sprang unwillkürlich zurück; er verspürte das alarmierende Nahen von Panik in der Kehle – die Panik des Lenkenden.
    Dunkeljunge runzelte die Stirn; widerstrebend wandte er die Augen von den Federn

Weitere Kostenlose Bücher