Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
sah, als sie in ihrem Gesicht ausdrückte, und manchmal war sein Schweigen mehr, als sie ertragen konnte.
Nachts schlief sie unruhig. Einmal träumte sie lebhaft von Tiahna. Im Traum sah sie Tiahna vom glühenden Badestein gleiten und die Plaza überqueren. Als sie bei den Feldern ankam, schmolzen Schnee- und Eiswälle vor ihr, und der rostharte Boden verwandelte sich in Schlamm. Obwohl sie noch nie die Frühlingsschmelze miterlebt hatte, stellte Khira sie sich bis ins kleinste Detail vor. Und sie erwachte mit einem Schmerzensschrei, als Tiahnas leuchtende Wolke ein kleines Tier berührte und in Asche verwandelte – ein kleines Tier mit Augen, die sie kannte, aufmerksamen, fragenden Augen.
Am nächsten Tag war Khira ruhig. Sie wußte, daß sich Tiahna hinter den Mauern des Palastes genauso bewegte wie in ihrem Traum.
Schließlich, am sechsten Tag, warteten sie und Dunkeljunge in ihrem Zimmer auf den Klang des Gongs. Als er ertönte, nahm Khira mit zitternden Händen die Fensterläden von den Fenstern. Statt Schnee standen Schlamm und Wasser im Tal. Die Feuchtigkeit hing in Schwaden in der Luft, und Terlath verlor sich in dunstigen Wolken. Dunkeljunge holte ungläubig Luft.
»Es ist Zeit fürs Pflügen«, sagte Khira und wandte sich vom Fenster ab. Und eine Leere, beunruhigender noch als Furcht, ergriff Besitz von ihr, eine schützende Taubheit, tief, daß ihr ihre eigenen Worte weit entfernt schiene »Komm.«
Als sie den Thronsaal erreichten, war er überfüllt Menschen aus den Hallen, bleich, kalt, faltig. Tiahna saß auf dem sanft glühenden Thron, ihre Augen waren verdeckt, ihre Haut schwarz verbrannt. Sie hatte sich noch nicht die Zeit genommen, die abgesengten Strähnen ihres Haares zu stutzen oder den Schlamm von ihren Füßen zu waschen. Ihre Hände lagen bewegungslos auf den Lehnen des Thrones, und der Paarungsstein lag dunkel an ihrem Hals.
Dunkeljunge zögerte, und Khiras Herz schmerzte, als sie sah, wie er Tiahna anschaute – atemlos, als wäre sie ein zu Fleisch gewordener Mythos. »Wir sitzen zur Linken des Thrones«, sagte sie und zerrte ihn durch die Menge zum Podium. Der Thron aus Sonnenstein strahlte Wärme aus, doch Dunkeljunge schien es nicht zu bemerken. Er ließ sich am Rand des Podiums nieder und blickte mit offenem Mund zu Tiahna empor.
Auf ein Zeichen Tiahnas hin schlug Palus den Gong. Ohne Anweisung formierten sich die Leute zu einer Linie, die sich durch Thronsaal und Flur wand. Als Tiahna abermals die Hand erhob, kam Bewegung in die Linie, und einer nach dem anderen trat vor den Thron und verweilte dort kurz mit gefalteten Händen, um in der Wärme des Sonnensteins zu stehen. Während des zeremoniellen Teils blitzten die vernachlässigten Spiegeln in Abständen auf und bewirkten, daß der Thron durch das Licht pulsierte. Tiahna saß regungslos, nur ihre Augenlider zuckten zuweilen. Dunkeljunge starrte in atemloser Spannung zu ihr auf, völlig auf ihre Gegenwart konzentriert.
Am Nachmittag war dieser Teil zu Ende, und Tiahna schloß die Augen wieder. Dunkeljunge richtete eine wortlose Frage an Khira. Sie schüttelte den Kopf, ihr Magen schien plötzlich bleiern, ihre Schultern und Arme waren schwach. Es war Zeit aufzustehen, zu sprechen ...
Doch bevor sie eines davon tun konnte, kündigte ein plötzliches Stiefelgeklapper die Ankunft von vier Arnimi an. Khira warf ihrer Mutter einen flüchtigen Blick zu und nahm zur Kenntnis, daß sie die Lippen leicht zusammengepreßt hatte, bevor sie die Augen öffnete.
»Gutsommer, Barohna«, sagte Commander Bullens und trat steif und zeremoniell vor. Er hatte sich für seine Audienz bei Tiahna sorgfältig herausgeputzt. Sein dünnes graues Haar war vom Scheitel aus glatt zurückgekämmt, er hatte die Augenbrauen gezupft und die vorstehenden Augen mit einer dicken schwarzen Linie betont.
»Gutsommer, Commander.« Tiahnas Stimme war wegen des langen Nichtgebrauchs heiser. »Ich hoffe, Ihr fandet unsere Berge diesen Winter wieder von Interesse.«
Heftig aufwallende Angst brachte Khira auf die Füße. »Mutter ...« Aber Tiahna brachte sie durch Handheben zum Schweigen.
Und Commander Bullens redete weiter, als hätte sie nichts gesagt: »Wir halten alles auf Brakrath für erforschenswert, Barohna, Eure Berge, Euren Palast, die Eigenarten Eurer Leute.« Er gestattete sich ein kleines kaltes Lächeln. »Wir hoffen, daß der Rat der Verhärtung uns gütigerweise ein weiteres Jahr Verlängerung gewährt, damit wir mit unseren Studien fortfahren
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